„Wenn es uns in den kommenden zehn Jahren nicht gelingt, Europa eine Seele zu geben, es mit einer Spiritualität und einer tieferen Bedeutung zu versehen, dann wir das Spiel zu Ende sein.“ Seit  Jacques Delors diese Sätze gesagt hat, ist fast ein Vierteljahrhundert vergangen. Sie sind viel zitiert worden seit 1992, als der Vertrag von Maastricht gerade abgeschlossen war.

Europa war damals wesentlich überschaubarer, kleiner und homogener. 1995 kamen Schweden und Finnland sowie Österreich hinzu, erst 2004 mit der Osterweiterung die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, Slowenien, Slowakei und Ungarn, außerdem Malta und Zypern, vor fast 10 Jahren Rumänien und Bulgarien und 2013 schließlich Kroatien. Mit jedem neuen Mitgliedsstaat erhöhte sich die Vielfalt und wuchs die Herausforderung der „Integration“ – nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht.

Die europäische Verfassung und die konkreten Regelwerke könnten gewissermaßen als Leib der Union beschrieben werden. Die Seele braucht einen Ort, sie braucht einen Leib, in dem sie gesund leben kann. Deshalb kann Europa nicht nur technokratisch verstanden oder gestaltet werden. Es geht auch um Seelenpflege.  Delors` Einschätzung wurde und wird von vielen geteilt: „Glauben Sie mir, wir werden mit Europa keinen Erfolg haben mit ausschließlich juristischer Expertise oder wirtschaftlichem Know-how.“  Bei vielen Konferenzen, Tagungen, Begegnungen stand und steht also das Bemühen, Europa eine Seele zu geben, im Mittelpunkt.

chainlink-690503_1280

Viele „leibliche“ Symptome deuten aber darauf hin, dass Europa nicht gesund ist: keine Einigung auf eine solidarische Flüchtlingspolitik; mangelnde Erfolge bei der Umsetzung des Regelwerks in den Mitgliedsstaaten; Instrumente, die ein wachsendes soziales und wirtschaftliches Gefälle nicht verhindern. Es ist wohl auch nur bedingt gelungen, die europäischen Jahre wirklich mit Leben zu füllen… In einem kranken Leib leidet die Seele mit.

Die „seelischen“ Symptome sind mindestens so zahlreich. Über die Mitgliedsstaaten im Süden wird an Stammtischen und auf den Straßen im Norden nicht nur wertschätzend gesprochen und gedacht, auch die im Osten kommen im Westen nicht besonders gut weg. Umgekehrt ist es ähnlich. Vorurteile, die gerade durch Begegnungen und gemeinsame Erfahrungen reduziert werden konnten, an manchen Stellen sogar überwunden, kommen in den letzten Jahren wieder leichter über die Lippen.  Nationalistische Ideen haben Konjunktur. Ein Europa als bloß lockerer Verbund von Nationalstaaten allerdings wird die komplexen politischen Herausforderungen nicht angehen können.  „Die Überwindung der Nation als vernünftigem und verbindlichem Bezugsrahmen politischen Handelns ist vielleicht der wegweisende Beitrag Europas zur künftigen Verfassung der Menschheit.“ Von diesem „wegweisenden Beitrag“, den Norbert Lammer zu erhoffen schien, ist Europa als „Institution“ derzeit  ziemlich weit entfernt.

So ist es nach wie vor dringlich, dass die Union neben der partizipativen Entwicklung handfester politischer Regelungen Begegnung zwischen Menschen fördert, dass sie Projekte des kulturellen Austauschs fördert und weiter versucht, auch etwas für ihre seelische Gesundheit zu tun.

angel-1576656_1280

Europa eine Seele geben. Das ist auch gelungen. Punktuell. Die junge Generation, von der Delors damals sprach, ist inzwischen nicht mehr jung. Für viele, die er im Blick hatte, ist „Europa“ selbstverständliche Wirklichkeit geworden: keine spürbaren Grenzen, in vielen Ländern dieselbe Währung, ungehinderte Reisen oder Studienaufenthalte, auch unkomplizierte Arbeitsbeziehungen oder Arbeitsaufenthalte. Auch wenn sich heutige Jugendliche treffen, ist die europäische Seele zu spüren. Gemeinsame Erfahrungen, gemeinsames Lernen und Arbeiten oder kultureller Austausch tragen dazu bei, das Bewusstsein für die je eigenen Traditionen zu schärfen und sie stiften gleichzeitig eine gemeinsame Identität, schaffen eine Seele. Aber „weder gemeinsame Kultur noch gemeinsame Geschichte sind ausreichende Voraussetzung für eine Europäische Gemeinschaft. Vielmehr bedarf es gemeinsamer Erinnerung und einer gemeinsamen Verfassung“, so Norbert Lammert. Leib und Seele gehören zusammen.

Die Kirchen pflegen ökumenische Kontakte inner- und außerhalb Europas. Sie tun das auf allen Ebenen: Treffen auf Leitungsebene, Begegnungen von Gemeinden, Jugendaustausch… Sie können diese Kontakte viel bewusster und stärker als Beitrag dazu verstehen, Europas Seele zu stärken.