Über mangelnde Präsenz in den französischen Medien kann sich Angela Merkel dieser Tage wahrlich nicht beklagen. Gleich sechs doppelseitige Beiträge in der führenden Tageszeitung „Le Monde“, Titelseiten und Themenblöcke in weiteren überregionalen Tageszeitungen, außerdem Talkshows im Fernsehen zu ihrer politischen Zukunft. Und immer geht es um das eine: ihre Entscheidung vom 5. September 2015. Längst ist die Öffnung der deutschen Grenzen für Flüchtlinge zu einem Schlüsselthema auch der französischen Innenpolitik geworden – und dies gleich in zweifacher Hinsicht: zum einen heizt sie die in Frankreich bereits seit Jahren vehement geführte Debatte um die richtige Migrations- und Integrationspolitik weiter an. Zum anderen aber treibt sie all jene weiter in die Defensive, die Europa nach wie vor als ein gemeinsames politisches Projekt mit deutsch-französischem Motor betrachten.

Zu sehr steht Merkel inzwischen für ein politisch mächtiges und wirtschaftlich übermächtiges  Deutschland, das in der EU überwiegend seine eigenen Interessen vertritt. Frankreich darf da im besten Fall als Juniorpartner mitspielen, wirklich mitreden kann es aber nicht mehr. Laut Umfragen wird Merkel in Frankreich gerade dafür bewundert, dass sie machtbewusst sei und Dinge konsequent vorantreibe, neben Obama die einzige „Ikone“ der demokratischen Welt. Ganz im Gegensatz zu Staatspräsident Hollande. Noch immer ist unklar, ob er angesichts katastrophal niedriger Zustimmungsraten bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen im April 2017 überhaupt noch einmal antritt. Von rechts steht er wegen seiner Migrations- und Sicherheitspolitik massiv unter Druck, von links wird er wegen seiner eher liberalen Wirtschaftspolitik hart angegangen. Während Deutschland als Wirtschaftsmacht gestärkt aus der Krise hervorgeht und in der Flüchtlingspolitik einseitig europäische Fakten schafft, scheint Frankreich als Verlierer der Globalisierung in einem zerfallenden Europa Richtung Bedeutungslosigkeit zu treiben.

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Das derzeit erdrückende Ungleichgewicht zwischen Frankreich und Deutschland verschärft die ohnehin düstere Stimmung im Lande. Wie der gesamte Süden Europas ächzt Frankreich laut unter der sogenannten Austeritätspolitik, die nahezu unisono als Ausdruck deutscher Wirtschaftsdominanz empfunden wird. Hollandes Initiativen im Kampf gegen europäische und globale Steuerhinterziehung scheitern regelmäßig am politischen Unwillen in Berlin. Französische Forderungen nach schnellen und harten Brexit-Verhandlungen werden durch die Interessen der deutschen Exportindustrie bereits jetzt untergraben. Immer muss Frankreich klein beigeben, einen Rückzieher machen – gleichberechtigte Partnerschaft sieht anders aus. Und dann trifft Deutschland eine derart weitreichende Entscheidung wie die Grenzöffnung für Flüchtlinge völlig einseitig, erfordert im Anschluss  von seinen europäischen Partnern aber grenzenlose Solidarität. Selbst diejenigen, die gerade diese Entscheidung Merkels als richtigen oder gar mutigen Schritt in der Sache befürworten, können dem deutschen Politikstil insgesamt kaum etwas Positives abgewinnen.

Für die französische Opposition von links und rechts ist aber gerade dieser Politikstil ein gefundenes Fressen. Frankreich mache sich endgültig zum Deppen, wenn es eigene Interessen und Liaisons aufgebe, nur um treu einem Partner zu folgen, der ein gemeinsames Vorgehen zwar weiterhin beschwöre, in der Praxis aber schlichtweg anders handle. Das Zerrbild eines neoliberalen, deutschen Europas hat in den französischen Medien und bei französischen Politikerinnen und Politikern weithin Konjunktur. Eine gefährliche Gemengelage. Denn sollte es im zweiten Wahlgang der anstehenden französischen Präsidentschaftswahlen tatsächlich zu einem Stechen zwischen dem deutlich nach rechts gerückten Republikaner Sarkozy und der rechtspopulistischen Le Pen vom Front National kommen, verlören alle; Frankreich, Deutschland und das Projekt Europa.

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Vor den Wahlen in Frankreich wird eine Korrektur des deutschen Zerrbilds in der französischen Öffentlichkeit kaum mehr möglich sein, zumal auch in Deutschland der Beginn des Bundestagswahlkampfs ansteht. Perspektivisch aber bedarf es eines relevanten und konkreten europapolitischen Fahrplans, den Deutschland und Frankreich gemeinsam in Angriff nehmen. Und anders als in den letzten Jahren müssen sich darin verstärkt französische Positionen wiederfinden. Kurzfristig wäre hier eine klare, gemeinsame Haltung zum Brexit die passende Gelegenheit. Deutschland könnte dann das deutliche Zeichen setzen, dass Absatzchancen für deutsche Autohersteller nicht generell wichtiger sind als Fortschritte im Hinblick auf ein soziales und faires Europa.

Ach, und die Kirchen? Auf der kommenden Synode in Magdeburg steht ein „Europa in Solidarität“ zur Debatte. Dabei dürften französische Empfindlichkeiten keine besondere Rolle spielen. Sehr wohl aber kann die Synode in ihren Beschlüssen dazu beitragen, dass deutsche Positionen nicht als Maß aller Dinge in Europa dargestellt werden. Für einen solidarischen Diskurs wäre dies ein hilfreiches Signal, auch in Frankreich.