Von Pfarrer Dr. Dieter Heidtmann, Leiter des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) Baden

 „Du sollst das Recht deines Armen nicht beugen“ (2. Mose 23,6) ist eines der Gebote, die dem Volk Gottes im Alten Testament mit auf den Weg in das verheißene Land gegeben werden. Und mit dieser Rechtsetzung, die nach alttestamentlichem Verständnis von Gott selbst ausgeht, geschieht etwas fundamental Neues: Die Fürsorge für Arme und Schwache, für Fremde und für Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen ist auf einmal nicht mehr eine Frage von Almosen, sondern eine Frage des Rechts. Die Armen, die keinen Besitz haben, auf den sie sich stützen können, die Fremden, die bis dahin allenfalls ein Reservoir billiger Arbeitskräfte bildeten, erhalten Rechte. Und mit diesen Rechten erhalten Sie eine Würde, die sie allen anderen gleichstellt – unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Einkommen.

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Armutsbekämpfung ist auch heute keine Frage von Almosen, sondern von sozialen Rechten. Die Europäische Union hat sich im Vertrag von Lissabon verpflichtet, gemeinsam alle Formen von Armut und sozialer Ausgrenzung zu bekämpfen. In Art. Abs. 3 des EU-Vertrags steht: „Sie [die Europäische Union] bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. …“ Trotzdem waren im Jahr 2015 (dem aktuellsten Jahr der statistischen Erhebungen) nach dem Social Justice Index Report der Bertelsmann- Stiftung fast ein Viertel aller EU-Bürgerinnen und –Bürger armutsgefährdet (24.6 %). Das sind rund 122 Million Menschen. Als armutsgefährdet gilt, wer über weniger als 60% des Durchschnittseinkommens einer Gesellschaft verfügt. Zu den Risikogruppen gehören in der EU insbesondere Arbeitslose, Alleinerziehende und ältere Menschen. Aber auch Arbeit schützt nicht immer vor Armut. Ca. 10% aller Arbeitnehmer sind von Armut betroffen, obwohl sie regelmäßige Arbeit und ein festes Einkommen haben („working poor“).

Diese Zahlen beschreiben die soziale Situation in Europa nur sehr unzureichend. Denn es gibt nicht nur eine materielle Armut, die die Einschränkung der Lebensmöglichkeiten in allen Lebensbereichen bezeichnet. Immer mehr Menschen sind damit konfrontiert, in einzelnen Bereichen ihres Lebens mit Einschränkungen oder Ausgrenzungen leben zu müssen. Das heißt, jemand kann in einer oder mehreren Dimensionen seines Lebens verarmen, ohne dass dies automatisch eine Verarmung in allen anderen zur Folge hat. Streng genommen müsste man von Armut in der Mehrzahl sprechen, um diesen Prozess besser beschreiben zu können. Die Faktoren, die zu Armut führen, haben sich ausdifferenziert und vervielfacht.

Diese „relative“ Armut ist vielleicht nicht so offensichtlich wie die absolute, materielle Not, die wir aus anderen Teilen der Welt kennen, aber sie hat unsere Gesellschaften längst in tiefgreifender Weise ergriffen. Eine Konsequenz der „relativen“ Armut ist eine weit verbreitete Angst vor dem Verlust der eigenen Existenz, die unsere Gesellschaften prägt. Diese Unsicherheit prägt die Atmosphäre in den europäischen Ländern selbst dort, wo die Menschen eigentlich in guten Verhältnissen leben.

Die sozialen Jugendrevolten in den französischen Vorstädten oder der Aufstand der Jugendlichen in Spanien oder Griechenland veranschaulichen, was mit „relativer“ Armut gemeint ist: Die Jugendlichen, die in den Vorstädten rebelliert haben, leben nicht in einer absoluten Armut, die ihre Existenz bedrohen würde, aber sie leben in großer Armut, was ihre Zukunftschancen und ihre Entwicklungsmöglichkeiten betrifft. Sie haben keine oder kaum eine Chance, eine ihren Fähigkeiten entsprechende Aufgabe in der Gesellschaft zu finden. Diese Chancen-Armut ist es, gegen die sie rebellieren, der Mangel an Verantwortung und Würde, den unsere Gesellschaft einer ganzen Generation entgegen bringt. Viele sozialwissenschaftliche Untersuchungen legen nahe, dass diese Aussichtlosigkeit ein Grund für das Erstarken populistischer Parteien in ganz Europa ist.

Parallel zu diesem Ausbreiten einer neuen Armut beobachten wir übrigens einen gegenläufigen Prozess: Einen neuen Reichtum in einem kleineren, oberen Segment der Gesellschaft. Die Spitzen dieses neuen Reichtums kommen bemerkenswerter Weise aus Mittel- und Osteuropa: Die Umwandlungsprozesse in den ehemaligen kommunistischen Staaten haben unter anderem dazu geführt, dass eine sehr geringe Anzahl von Privatunternehmern innerhalb weniger Jahre immens große Privatvermögen erwirtschaften konnten, während das Einkommen weiter Teile der Bevölkerung nach wie vor sehr gering ist. Und die Schere zwischen Arm und Reich in Europa geht immer weiter auseinander.

„Du sollst das Recht deines Armen nicht beugen.“ Das bedeutet: Jeder Mensch hat einen Rechtsanspruch auf ein würdiges Leben. Die Verwirklichung dieses Rechtsanspruchs gilt unabhängig davon, was jemand besitzt, woher jemand stammt, welche Eltern er oder sie hat oder in welche Volksgruppe sie hineingeboren wurde. In diesem Gebot der Bibel bekommt die Armut auf einmal ein menschliches Gesicht. Sie ist nicht mehr unpersönlich und anonym. Hier wird deutlich: Es geht um jeden einzelnen Menschen und die Frage, wie er oder sie ein würdiges Leben führen kann.

„Du sollst das Recht deines Armen nicht beugen.“ Wenn wir ernst nehmen, dass jeder Mensch eine besondere Würde hat und dass er ein Recht auf ein lebenswürdiges Leben hat, dann ist der entscheidende Begriff für Gerechtigkeit „Teilhabe“. Gerechtigkeit heißt dann, dass die Menschen teilhaben können an der Gesellschaft, dass sie sich mit ihren Fähigkeiten, mit ihren Möglichkeiten einbringen können. Auch hier geht es nicht um Almosen, sondern um Chancen, um die Verwirklichung der eigentlichen Möglichkeiten. Es kann einfach nicht sein, dass ein Kind keine Chance erhält, seine Fähigkeiten und Begabungen in die Gesellschaft einzubringen, nur weil es in eine Roma-Familie in Italien geboren wurde oder weil es in Deutschland immer noch ein Schulsystem gibt, das die Schülerinnen und Schüler nach ihrer sozialen Herkunft aussortiert.

„Du sollst das Recht deines Armen nicht beugen.“ Es gibt neben dieser Frage der Teilhabegerechtigkeit auch noch den Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit. Der spielt in unserem Bibelvers keine Rolle, aber z. B. in den Regelungen der Bibel zu einem Schuldenerlass für überschuldete Menschen (Erlassjahr 5. Mose 15). Das heißt, es gibt eine Form von materieller Ungerechtigkeit, die nicht mehr gemeinschaftsverträglich ist. Zur Verteilungsgerechtigkeit gehören nach Auffassung der Kirchen deshalb gerechte Steuern, bei denen diejenigen, die mehr leisten können, auch mehr zur Gemeinschaft beitragen als die Schwachen und die Gewährleistung von Löhnen und Gehältern, von denen die Menschen auch leben können („living wages“).

„Du sollst das Recht deines Armen nicht beugen.“ Die Bibel spricht in bemerkenswerter Weise von „deinem Armen“. Hier wird das gesamte Volk Israel, heute würden wir sagen, die gesamte Gesellschaft, in die Verantwortung genommen: Arme und Reiche, Starke und Schwache gehören zusammen. Der Buß- und Bettag 2017 bietet einen guten Anlass, an diese gemeinsame Verantwortung im Einsatz gegen Armut und soziale Ausgrenzung zu erinnern.

 

Dr. Dieter Heidtmann
Leiter des KDA und Studienleiter an der Evangelischen Akademie Baden
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