Stellungnahme des Evangelischen Verbandes Kirche Wirtschaft Arbeitswelt zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung / Hannover 23.6.2023

Migrant*innen dringend gesucht

Deutschland gehen die Arbeitskräfte aus. Zahllosen Unternehmen mangelt es an Personal. Es fehlen sowohl Fachkräfte als auch An- und Ungelernte. Schon heute sind fast zwei Millionen Arbeitsplätze unbesetzt; bis zum Jahr 2035 wird der deutsche Arbeitsmarkt demografiebedingt noch sieben Millionen Erwerbstätige verlieren, wenn nicht entgegengesteuert wird (vgl. Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zu aktuellen offenen Stellen und zur Projektion des künftigen Arbeitskräfteangebots). Betroffen sind zum Beispiel die Kranken- und die Altenpflege, die Informationstechnologie, das Handwerk, auch Bauindustrie, Ingenieurswesen und Bildung.

Diese Entwicklung stellt in vielerlei Hinsicht die Zukunft des Landes in Frage: Wer wird künftig die Kranken und Alten pflegen? Wer kümmert sich um eine funktionierende und sichere digitale Infrastruktur? Wer treibt die Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft voran? Und wer sorgt für die notwendigen Qualifikationen der kommenden Generation?

Eine Vielzahl von Maßnahmen wird nötig sein, um das gewaltige Arbeitskräfteproblem zu meistern: eine hohe Erwerbsbeteiligung von Frauen und Männern, sei es in Vollzeit oder Teilzeit, die Integration langzeitarbeitsloser Menschen sowie Anstrengungen in der Fort- und Weiterbildung. Darüber hinaus ist die Einwanderung von Arbeitskräften unverzichtbar. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zeigt, dass Deutschland bis zum Jahr 2060 eine jährliche Nettozuwanderung von 400.000 Erwerbstätigen erreichen muss, um das Erwerbspersonenpotenzial zu stabilisieren (vgl. Jahresgutachten 2022/2023, Abb. 95). Da jedes Jahr auch viele Personen aus- oder weiterwandern, wird insgesamt ein Vielfaches von Zuzügen benötigt. Bisher kam ein Großteil der Migrant*innen aus dem EU-Ausland. Deren Anteil wird jedoch sinken. Künftig muss es insbesondere darum gehen, die Einwanderung aus Nicht-EU-Ländern zu stärken. 

Vom Misstrauen zum Zutrauen 

Fast alle politischen Parteien in Deutschland haben erkannt, dass ein Mehr an Migration unverzichtbar ist. Doch dafür wird sich unsere Haltung gegenüber der Migration verändern müssen. “Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kommen Menschen“, erkannte Max Frisch schon 1965. Die Politik hat sich damals wie heute zu wenig um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gekümmert. Oft haben die Debatten die Integration von Migrant*innen nicht befördert, sondern erschwert. Es ist erstaunlich, wie negativ auch heute noch über Migration gesprochen wird, obwohl sie für eine alternde und schrumpfende Gesellschaft überlebenswichtig ist. Begriffe wie „Flüchtlingsströme“ oder „Einwanderungswellen“ erinnern an Naturkatastrophen und schüren Ängste. Gerade in der Migrationspolitik herrscht noch immer ein Menschenbild vor, das von Misstrauen, Missgunst und Kontrolle geprägt ist. 

Die deutsche Gesellschaft muss besser darin werden, Migrant*innen nicht argwöhnisch als Fremde zu betrachten, sondern als gleichberechtigte Menschen mit Talenten und Bedürfnissen. An die Stelle des Misstrauens tritt aus christlicher Perspektive eine Ethik des Trauens – des Sichtrauens, des Zutrauens, des Vertrauens. „Unser Leitbild ist eine Gesellschaft, die niemanden ausschließt, sondern alle befähigt und einlädt, ihre Talente zu nutzen“, heißt es in der evangelischen Denkschrift “Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“ von 2008 (S. 9). Für die Migrationspolitik bedeutet das: weg von der Haltung des Belehrens, des Sich-Bereicherns oder des Mildtätigseins, hin zur Begegnung auf Augenhöhe, zur Ermutigung, zum Voneinander-Lernen. Nicht Naivität, sondern der Glaube an eine lebenswerte Zukunft auf dieser einen Erde eröffnet diesen Weg. 

Grundlegend ist eine Haltung, die jedem Menschen als Ebenbild Gottes die gleiche Würde zuspricht und das Gebot der Nächsten- und Fremdenliebe nicht an Staatszugehörigkeit bindet. So forderten die Kirchen in Deutschland in ihrem Gemeinsamen Wort “Migration menschenwürdig gestalten“ 2021: „Nicht die Verhinderung von Migration, sondern die Gestaltung von Migration muss das Ziel sein – unter der Maßgabe, die Würde jedes Menschen zu schützen, die grundlegenden Menschenrechte zu wahren und nationale mit internationalen Gemeinwohlperspektiven zu verbinden“ (S. 120).

Triple win! Für ein Einwanderungsgesetz, das allen Seiten hilft 

Aus dieser Perspektive stellen sich kritischen Anfragen an die Politik: Wie setzen deutsche Migrationsbehörden eigentlich ihre Ressourcen ein – für die Ermöglichung von Einwanderung oder eher für deren Blockade? Wie begründet die Politik die unterschiedliche Behandlung von Menschen aus verschiedenen Ländern? Wie gestaltet sie den Wissens- und Kompetenztransfer mit deren Herkunftsländern? 

Ein aktueller Versuch, die deutsche Migrationspolitik neu aufzustellen, ist die Reform des Fachkräfteeinwanderungsrechts. Diese Reform ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber erscheint an vielen Stellen doch halbherzig. Manche Bürokratiehürden bleiben im Gesetz bestehen, die noch aus einer Zeit stammen, in der Migrationspolitik vor allem als Abwehr von Migration verstanden wurde. So wird mit der neuen „Chancenkarte“ ein an sich sinnvolles Punktesystem eingeführt, das allerdings auch wieder hohe Hürden setzt, etwa indem es verlangt, dass selbst Fachkräfte mit Berufserfahrung und guten Deutschkenntnissen schon vor der Einreise einen gesicherten Lebensunterhalt vorweisen. Daran werden viele in der Praxis scheitern, befürchtete die Diakonie Deutschland in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf (vgl. Stellungnahme der Diakonie Deutschland vom 7.3.2023, S. 2). Immerhin: Der rechtliche „Spurwechsel“ von Geflüchteten aus der Asyl- in die Erwerbsmigration soll rückwirkend für bereits laufende Asylverfahren erleichtert werden. 

Ein konsequentes Fachkräfteeinwanderungsgesetz muss der Lebensrealität der einwandernden Menschen Rechnung tragen. Es muss berücksichtigen, dass die Arbeitsmigrant*innen nicht endlos warten können und auch nicht bereit sind, auf unbestimmte Zeit in komplizierten Anerkennungsprozeduren festzustecken. Keine Anerkennung sollte länger als zwei Monate dauern, wenn Deutschland im Wettbewerb um Fachkräfte mit anderen Einwanderungsländern bestehen will. Ein wirklich konsequentes Fachkräfteeinwanderungsgesetz sollte auch respektieren, dass Einwanderer*innen ein Recht auf Familie haben und Bindungen in die Heimat pflegen wollen. Deswegen müsste es allen Arbeitsmigrant*innen auch den Nachzug und die Arbeitsaufnahme von Familienangehörigen erleichtern, so wie es jetzt zumindest im Fall von ausländischen Akademiker*innen, die über eine Blue Card verfügen, geplant ist. Notwendig wäre darüber hinaus ein unkomplizierter zirkulärer Wechsel von Arbeitsaufenthalten in Deutschland und dem Heimatland, wie die Kirchen in einer gemeinsamen Stellungnahme fordern (vgl. Stellungnahme des Katholischen Büros Berlin und der Bevollmächtigten des Rates der EKD vom 8.3.2023, S. 2). 

Die Migrationspolitik kann nur Erfolg haben, wenn sie stärker als bisher aus der Sicht der Beteiligten gedacht wird. Das Ziel muss ein „Triple Win“ sein: für die deutsche Gesellschaft, die Migrant*innen und ihr Herkunftsland. Dazu gehört auch, dass Arbeitsmigration nicht zur allgemeinen Verschlechterung von Arbeitsbedingungen führen darf. So birgt die Ausweitung der „Westbalkanregelung“ durchaus auch Risiken für heimische wie zugewanderte Arbeitskräfte, wenn sie zur Unterwanderung von Standards führt. Die Regelung wurde nach Aussage der Gewerkschaften bisher zum Beispiel im Baugewerbe verbreitet zum Lohndumping genutzt. Hier wäre sowohl die Pflicht zur Tarifbindung, als auch eine Erleichterung von Betriebswechseln wichtig, um Ausbeutung zu verhindern (vgl. Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes vom 7.3.2023, S. 11ff.). 

Fazit: Paradigmenwechsel in der Willkommenskultur 

Die Einwanderung von Arbeitskräften ist für Deutschland eine Notwendigkeit und eine potenzielle Bereicherung. Migrationspolitik kann aber erst dann nachhaltig sein, wenn sie nicht allein ökonomischer Logik folgt. Wir brauchen aus christlicher Perspektive einen Paradigmenwechsel in der deutschen Willkommenskultur, also in der Bereitschaft, Menschen erst einmal ankommen zu lassen, statt sie monatelang zu durchleuchten, ihnen zu vertrauen und etwas zuzutrauen. Nicht zuletzt fordert der biblisch verwurzelte Grundsatz der Menschenwürde, dass Migrant*innen nicht als möglichst billige Arbeitskräfte oder Verfügungsmasse betrachtet werden, sondern als gleichberechtigter Teil unserer Gesellschaft und Gemeinschaft. Die Aufnahme von Menschen aus anderen Ländern bedeutet mehr als nur die Besetzung offener Arbeitsstellen. Ziel muss es sein, die Bedingungen der Einwanderung so zu gestalten, wie wir sie uns selbst wünschen würden, wenn wir in einer anderen Gesellschaft Fuß fassen wollten. 

 

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Beate Schulte
Sprecherin ESA-Ausschuss KWA

Sozialreferentin für den KDA
in der Ev.-luth. Kirche in Oldenburg
Diakonin
Telefon 0441 7701 472
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Anja Buchholz
Referentin für soziale Verantwortung und nachhaltige Ökonomie

Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen
Fachbereich UMWELT + SOZIALES
Iserlohner Straße 25 | 58239 Schwerte
Telefon 02304 755-353
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Philip Büttner
Sozialwiss. Referent
KDA der LK Bayern
Schwanthalerstr. 91
80336 München
Tel.: 089 / 53 07 37-43
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Lukas Spahlinger
Arbeit & Soziales, Umwelt & Digitale Welt

ZGV - Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN
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