Die Selbstverwaltung muss ins Grundgesetz

Alle sechs Jahre werden bei den Sozialwahlen die Vertreter*innen der Versicherten in die Gremien der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Unfallversicherung gewählt – zuletzt 2023. Trotz ihrer Bedeutung wird die drittgrößte Abstimmung des Landes und die in den Gremien geleistete Selbstverwaltung kaum wahrgenommen. Im Gespräch erklärt der Bundesbeauftragte für die Sozialwahlen und Kolpingmitglied, Peter Weiß, warum die soziale Selbstverwaltung wichtig ist und weshalb sie eine Stärkung braucht.

Bei den letzten Sozialwahlen hat die Wahlbeteiligung gegenüber den vorangegangenen deutlich abgenommen. Wie erklären Sie sich das geringe Interesse?

Peter Weiß: Die Nachwahlbefragungen geben dazu klare Antworten: Viele Wahlberechtigte wissen schlichtweg mit dem Thema Sozialwahl nichts anzufangen. Ihnen sagen die Namen auf den Wahllisten nichts. Und sie wissen nicht, welchen persönlichen Nutzen sie von der sozialen Selbstverwaltung haben. Das Resultat ist, dass sie den Wahlumschlag eher wegwerfen, als ihn auszufüllen.

»Selbstverwaltung« ist ein sperriger Begriff, der vielen Bürger*innen wenig sagt. Lässt sich das Prinzip in wenigen Sätzen zusammenfassen?

Peter Weiß: Wir alle sind verpflichtet, Beiträge in die Sozialversicherung zu zahlen. Sie dienen dazu, uns vor zukünftigen Risiken zu schützen. Deshalb ist es richtig und notwendig, dass Vertreter*innen der Versicherten in den Parlamenten darüber wachen, dass an der Spitze der Versicherung ein qualifiziertes Management steht und sorgfältig mit den Versichertengeldern umgegangen wird. Gleichzeitig wird darauf geachtet, dass benötigte Leistungen rasch und schnell gewährt werden. Das ist Aufgabe der sogenannten Selbstverwalter*innen.

Befürworter*innen betonen, dass die soziale Selbstverwaltung ein Teil gelebter Demokratie in Deutschland sei.

Peter Weiß: Wir erleben in Deutschland seit vielen Jahren eine intensive Diskussion über Bürgerbeteiligung. So werden zum Beispiel Bürgerräte nach dem Zufallsprinzip eingesetzt, um bestimmte Themen zu bearbeiten. Dabei geht unter, dass wir in der Sozialversicherung ein klassisches Instrument haben, nämlich das der Selbstverwaltung, also ein Parlament der Versicherten und der Arbeitgebenden. Diese soziale Selbstverwaltung ist ein wichtiges Stück Demokratie in unserem Land, das man nicht neu erfinden muss, sondern vielleicht stärker beleben muss. Eine Idee könnte sein, der Selbstverwaltung Verfassungsrang zu verleihen.

Genau dies schlagen Sie auch im Abschlussbericht zu den letzten Sozialwahlen vor. Was würde eine Aufnahme ins Grundgesetz ändern?

Peter Weiß: In der Verfassung sollte nicht nur etwas über die Organisation der Sozialversicherung stehen, sondern auch über ihren Wesensgehalt. Dazu gehört die Selbstverwaltung. Wenn diese im Grundgesetz stehen würde, könnte man politisch nicht so einfach über deren Kompetenzen hinweggehen, wie das manchmal geschieht. Ich nenne hier als Beispiel die Entscheidung früherer Bundesregierungen, die Erweiterung der sogenannten Mütterrente aus Beiträgen der Versicherten zu finanzieren. Denn hier wäre es konsequent gewesen, die zusätzlichen Ausgaben aus Steuermitteln zu finanzieren. Die finanzielle Anerkennung von Kindererziehungszeiten ist nämlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

weiterlesen…

 

Peter Weiß (69) war von 1998 bis 2021 Mitglied des Deutschen Bundestages und dort Vorsitzender der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Seit 2021 ist er Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen.

Das Interview führte Alexander Suchomsky, Referent für Arbeit, Gesellschaft und Soziales beim Kolpingwerk Deutschland und ACA-Bundesgeschäftsführer.
Die Arbeitsgemeinschaft christlicher Arbeitnehmerorganisationen (ACA) ist ein Zusammenschluss von drei christlichen Verbänden. Gemeinsam treten das Kolpingwerk, die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) und der Bundesverband Evangelischer Arbeitnehmerorganisationen (BVEA) bei den Sozialwahlen an. Der BVEA ist Mitglied unseres Verbandes.

Beitragsfoto: Kolpingwerk Deutschland, Peter Weiß (links) und Alexander Suchomsky (rechts)

Kontakt: Angela Haubrich, Öffentlichkeitsarbeit KWA, a.haubrich@kwa-ekd.de