Der September/Oktober-Impuls: Sonntagsschutz dient allen!

Der September/Oktober-Impuls: Sonntagsschutz dient allen!

Keine Erfindung der Kirchen

Die heute gültige Gesetzgebung zum Sonntagsschutz und ihre gegenwärtige Anwendung in der Rechtsprechung gehen nicht auf die Verteidigung angeblich rückwärtsgewandter kirchlicher Interessen zurück, sondern verdanken sich ganz im Gegenteil einem gemeinsamen Engagement ganz unterschiedlicher gesellschaftlichen Akteure, um auf die Herausforderungen der modernen Welt eine menschengerechte Antwort zu geben.

Arbeitnehmer- und Sozialrechte brauchen Schutz

Bereits früheste Dokumente aus der Entstehungszeit der bis heute prägenden Gesetzgebung zum Sonntagsschutz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also der beginnenden Industrialisierung und Globalisierung, geben Zeugnis davon ab, dass es ein umfassendes und höchst konkretes Problembewusstsein gab, in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen der Sonntagsschutz seinen Ort hat. Der Sonntagsschutz ist von Anfang an nicht ein Anliegen von weltfremden Träumern, sondern von Menschen, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden der konkreten Lebenserfahrung des ganzen Menschen stehen – also nicht des abstrakten homo oeconomicus, sondern des Menschen aus Fleisch und Blut, mit Herz und Verstand.

So findet sich etwa in einer stenographischen Mitschrift der Verhandlungen des Deutschen Reichstages aus dem Jahre 1873 folgender Bericht des damaligen Petitionsausschusses:

Was die Sonntagsruhe insbesondere anlangt, so wurde in den Reichstagsverhandlungen der Werth derselben für den Arbeiter, ganz abgesehen von jedem religiösen Standpunkte, lediglich vom allgemein menschlichen Gesichtspunkte aus, in ihrer Bedeutung für die körperliche Erholung, für das Familienleben, für die sittliche, geistige und Fachbildung des Arbeiters in nachdrücklichster Weise anerkannt, und die Hoffnung ausgesprochen, daß die Arbeiter in ihrer großen Mehrzahl die ihnen gegönnte Muße zu ihrer höheren Ausbildung und besseren Gesittung verwenden würden. Andererseits wurde betont, daßdie Gesetzgebung den Arbeiter gegen die Uebermacht der tatsächlichen Verhältnisse, welche ihn um des Lebensunterhaltes willen zur Sonntagsarbeit zwingen, schützen müsse; man habe den Zwang (der Gesetzgebung) gegen den Zwang (der sozialen Verhältnisse) nöthig“ (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages. I. Legislatur-Periode. — IV. Session 1873. Dritter Band — Anlagen zu den Verhandlungen des Reichstages, Nr. 60 — Dritter Bericht der Kommission für Petitionen, S.353ff).

Es ließen sich zahlreiche weitere Zitate aus den Beratungen dieser lang vergangenen Zeit anführen, die dokumentieren, dass die Fragen, die uns heute im Blick auf den Sonntagsschutz umtreiben, nicht wesentlich andere sind, als die Fragen, die bereits vor 150 Jahren Menschen in Deutschland bewegt haben:

Keine Belege für volks- und betriebswirtschaftliche Nachteile

Angst um das wirtschaftliche Überleben – sowohl der Unternehmer als auch der Arbeitnehmer -; Kritik an einem vorgeblich übermäßigen Einfluss von Kirche und Pfarrern in Dingen, von denen sie angeblich nichts verstehen – und das in Zeiten, da Christentum und Kirchen immer mehr an gesellschaftlichem Rückhalt verlieren -; zugleich der Hinweis aus sozialdemokratischer Richtung, dass der Sonntagsschutz auch ganz unabhängig von religiösen Traditionen etwas allgemein menschliches zum Thema habe, weshalb man in dieser Sache völlig einig sei mit der kirchlichen Position und diese unterstütze; sowie der stete Verweis, dass die Nation sich bei einem übermäßigen Sonntagsschutz nicht als Wirtschaftsmacht auf dem Weltmarkt behaupten könne; um nur einige der Übereinstimmungen zu nennen.

Einzig der Verweis auf die Situation in England war damals mit anderen Inhalten gefüllt. Dieser Verweis diente in jenen Tagen nämlich vor allem dazu, zu beweisen, dass sogar der sogenannte „englische Sonntag“ – so der damalige Ausdruck für das äußerst strenge britische Reglement, das die Sonntagsarbeit fast vollständig verbot – die wirtschaftliche Vormachtstellung Englands nicht gefährden könne und ganz im Gegenteil im ganzen Empire als soziale Wohltat empfunden werde.

Was es damals aber wie heute schon gab, war die Unterscheidung jener Arbeiten, die „trotz“ des Sonntags bzw. „für“ den Sonntag erlaubt sind, von jenen Arbeiten, die erkennbar lediglich ökonomischen Interessen dienen und daher nicht statthaft sein sollten.

Und was es damals ebenso schon gab, war das Selbstverständnis der Legislative – also der gesetzgebenden Instanz -, Gesetze für einen weltanschaulich neutralen Staat formulieren zu müssen, dessen Gesetze Zustimmung auch bei denen finden sollen, die ihr Leben unabhängig von irgendeiner christlichen Tradition und Kirche zu führen wünschen.

All diese komplexen Problemkonstellationen münden dann schließlich in jene knappen Worte des Artikels 139 der Weimarer Reichsverfassung:

Art. 139. Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt“.

In dieser Formulierung ist nicht zuletzt die Einsicht festgehalten, dass die Probleme der modernen Welt keine Probleme sind, die am Sonntag entstehen, sondern unter der Woche ihren Ursprung haben. Da Probleme dort in Angriff genommen werden müssen, wo sie entstehen, sorgt der starke Sonntagsschutz dafür, dass die gesellschaftliche Problembearbeitung der Werktage nicht auf die Sonn- und Feiertage abgeschoben wird und sich die Gesellschaft nicht vor der mühevollen Klärung der fairen und humanen Gestaltung der Werktage drücken kann.

Die Herausforderung besteht also seit jeher darin, die Werktage so zu gestalten und zu regeln, dass an ihnen unternehmerischer Erfolg sich einstellen kann, der ausreicht zum Überleben der Firma; dass an ihnen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer solche Erwerbsmöglichkeiten offenstehen, dass am Sonntag nur noch jene arbeiten müssen, die dies „trotz“ bzw. „für“ den Sonntag tun; und dass im Verlauf der Werktage für jedermann in ausreichendem Maße die Möglichkeit besteht, seine Konsumwünsche abzuarbeiten, damit er am Sonntag noch anderen Wünschen leben kann.

Globalisierung und Technisierung erfordern starke Gesetze

Die Voraussetzung für einen starken rechtlichen Sonntagsschutz ist eine starke — und das heißt immer auch: auf ihre Einhaltung hin zuverlässig kontrollierte — Gesetzgebung im Blick auf fairen Wettbewerb für Unternehmer während der Werktage und für einen gerechten auskömmlichen Lohn für Arbeitnehmer unter der Woche.

Das ist unter den Vorzeichen der Globalisierung und der Digitalisierung sicher eine wahre Herkulesaufgabe. Aber ist es wirklich eine Illusion zu glauben, dass die von Menschen zu gestaltende Globalisierung und die von Menschen verantwortete Digitalisierung unseres Alltags nicht auch von Menschen in humaner Weise organisiert werden kann?

Und gerade weil all dies so mühevoll ist, haben wir uns alle den arbeitsfreien Sonntag verdient, um an ihm zu erleben, wie frei das Leben sein kann und wie schön es ist, das gemeinsam Erarbeitete dann auch gemeinsam zu genießen.

Autor: Dr. Ralf Stroh, theologischer Referent für Wirtschafts- und Sozialethik

Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN

R.Stroh@zgv.info

Mehr Informationen zum Thema Sonntagsschutz erhalten Sie hier: https://allianz-fuer-den-freien-sonntag.de