Am 7. 10.2023 ist Dr. Walter Sohn in seinem Heimatort Oberursel im Alter von 86 Jahren gestorben. Der Pfarrer der hessen- nassauischen Kirche, der in Bonn, Hamburg, Heidelberg und Marburg Theologie mit dem Schwerpunkt Sozialethik studierte, widmete fast sein ganzes Berufsleben der kirchlichen Industrie- und Sozialarbeit.
Vielseitig gebildet und interessiert, mit tolerantem Naturell, sowie beständig ruhig und gelassen vermochte Walter Sohn nicht nur mit tiefgehenden gedanklichen Analysen und Deduktionen zu beeindrucken. Man berief ihn gerne in Ämter und Funktionen, in denen die Balance zwischen inhaltlicher Klarheit und Exaktheit auf der einen und der Integration vieler unterschiedlicher Standpunkte auf der anderen Seite gefordert war, weil man sicher sein konnte, dass ihm diese Balance gelang: Das soll der Walter machen, so hörte man dann sagen.
Zur Industrie- und Sozialarbeit kam er durch den Theologieprofessor und Sozialethiker Prof. Dietrich von Oppen in Marburg, bei dem er über das Thema: „Der soziale Konflikt als ethisches Problem“ promovierte.
1967 führte ihn sein Weg als erste reguläre berufliche Station in die Evangelische Sozialakademie Friedewald mit ihren nicht nur arbeitsweltbezogenen abwechslungsreichen Bildungsmaßnahmen. So arbeitete er in den sog. „Jugendsozialseminaren“ mit, in denen junge Erwachsene den staatlich anerkannten mittleren Bildungsabschluss erwerben konnten – als Voraussetzung für die weitere Qualifikation als zukünftige Jugendpfleger/Jugendpflegerinnen.
Herausgehobene Arbeitsschwerpunkte waren weiter die Ausbildungs- und Fortbildungslehrgänge für Ev. Sozialsekretäre/Sozialsekretärinnen sowie die Lehrgänge für Betriebsräte und Arbeitnehmer. Seine theologisch-sozialethische Kompetenz brachte er aber auch in das von der Akademie schon lange gepflegte Feld der Ost-West-Tagungen ein. Er thematisierte dort z.B. die damals aktuellen Auseinandersetzungen um die „Theologie der Revolution“, mit der zu Beginn der siebziger Jahre der politisch-gesellschaftliche Konflikt um die neue Entspannungspolitik kirchlicherseits aufgenommen wurde. Die hessische Polizei kam zu den entsprechenden Akademietagungen, auch weil sie in den 68er Zeiten häufig zu ungeliebten „Prügelknaben‘“ für gesellschaftliche Versäumnisse wurde. Außerdem konzipierte er für die staatlichen Einführungslehrgänge und Fortbildungsmaßen für Zivildienstleistende eine trägerspezifische und zielgruppenbezogene Konzeption als ein neues wichtiges Kursangebot der Soziakademie.
Rückblickend hat Walter Sohn die Zeit in Friedewald einmal als für ihn wichtig und bereichernd bezeichnet, weil er vielfältigste pädagogisch-didaktische und praktisch-theologische Erfahrungen sammeln konnte und überdies mit vielen Personen aus der Industrie- und Sozialarbeit in Kontakt kam.
1972 wechselt er in das Amt für Sozialethik der EKiR und als Studienleiter an die Akademie Mülheim. Bald wurde man im breiteren Kreis der Industrie- und Sozialarbeit auf seine Talente aufmerksam. Im 1974 neu gegründeten KDA wurde er an der Seite von Wilhelm Fahlbusch zunächst stellvertretender Vorsitzender, dann ab 1978 als dessen Nachfolger Vorsitzender des Verbandes.
Am Beginn der 70er Jahre standen gesellschaftliche Reformprojekte wie die „Qualität des Lebens“ und die „Humanisierung der Arbeitswelt“ auf der Tagesordnung. Das änderte sich allerdings bald, denn die Arbeitslosigkeit wurde zu einer jahrzehntelangen gesellschaftlichen Belastungs- und Bewährungsprobe. Sie führte zu langanhaltenden und kontroversen gesellschaftspolitischen Debatten um Lösungswege, auch innerhalb der kirchlichen Industrie- und Sozialarbeit. Der Streit um die Verlautbarungen zur „Zukunft der Arbeit“ und über das „Ende der Vollbeschäftigung“ in Zusammenhang mit der EKD-Synode in Berlin-Spandau 1982 eskalierte und wurde zu einem inhaltlichen und strukturellen Grundsatzkonflikt der AkfA, d.h. zwischen KDA und BEA. Dieser endete mit der Aufgabe der organisatorischen Einheit, mit Trennung und Neugründungen. Die tiefgreifende Auseinandersetzung führte auch zu manchen persönlichen Konflikten. Walter Sohn hat dabei die vom KDA erarbeitete und inhaltlich vertretene Position sachlich immer für richtig und geboten gehalten und die Trennung angesichts der nicht zu überbrückenden Gegensätze letztlich als unvermeidlich gesehen. Er vermied es aber, zusätzliches Öl ins Feuer zu gießen. Die Gradlinigkeit und Respektabilität seines Verhaltens ist auch von den damaligen Kontrahenten stets anerkannt worden. 1987, als die Scheidung und Neuorientierung der Verbände nach langen Mühen vollzogen war, zog er sich aus der KDA- Vorstandsarbeit zurück, nahm aber weiterhin Aufgaben und Funktionen wahr, so den Vorsitz im Förderverein des KDA oder bei der Kda-Zeitschrift.
Schon damals beschäftigte sich der KDA bereits mit den Strukturen der internationalen Arbeitsteilung und ihren gesellschaftlichen und sozialen Folgen, hier konkret für die Bundesrepublik und die schwarze Arbeitsbevölkerung im Apartheitsstaat Südafrika. Es ging um die Einheimischen, die dort in Tochterunternehmen deutscher Konzerne beschäftigt waren. Ihre Lage sollte durch eine freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen, dem sogenannten ‚EG-Kodex‘, verbessert werden. Wie wirksam war aber diese Selbstverpflichtung? Eine im Geheimen in Südafrika durchgeführte Untersuchung und erstellte Dokumentation kam zu einem durch Fakten belegbaren negativen Ergebnis. Der KDA gab 1979 das Resultat an die deutsche Öffentlichkeit weiter und hakte auch 1981 in dieser Sache noch einmal nach. Walter Sohn war Mitglied im Fachausschuss Entwicklungsbezogene Industrie –und Sozialarbeit des KDA, der diese Studie initiiert und mitverantwortlich getragen hat.
Die letzte berufliche Station von W. Sohn war die Industrie- und Sozialarbeit in Hessen-Nassau. Seit 1984 Industrie- und Sozialpfarrer in Frankfurt, wurde er 1988 Amtsleiter, nun mit der Verantwortung auch für die regionalen Industrie- und Sozialpfarrämter (später: „Regionalpfarrämter“). Mit großem Verantwortungsbewusstsein im Hinblick auf das Selbstverständnis und den Arbeitsauftrag sowie die Mitarbeitenden hat er bei den späteren amtskirchlichen Umstrukturierungsvorhaben mitgewirkt, um so die Interessen einer zukunftsfähigen Industrie- und Sozialarbeit in der konkreten Umsetzung wirksam einbringen zu können.
Wer die vom Amt erstellten Jahresberichte durchblättert, findet darin das ganze wirtschafts- und sozialpolitische Themenkaleidoskop der 80er und 90er Jahre wieder. Zeitlich schon sehr früh wurde (als kleines hessisches Markenzeichen) der beginnende Siegeszug der elektronischen Datenverarbeitung für die Beschäftigten thematisiert. Es gab dazu Informationsangebote für die Mitarbeitenden in Ämtern und Behörden über die Risiken, die bei den unbegrenzten Vernetzungsmöglichkeiten zu befürchten seien. Vorrangig und schwerpunktmäßig bestimmten aber folgende Probleme die Arbeit: Massenarbeitslosigkeit, Gesundheitsreform, Arbeitszeitverkürzung, Bündnis für Arbeit, Neue Armut und der hoffnungsvoll beginnende, aber letztlich folgenlose Aufbruch der beiden Kirchen mit dem “Gemeinsamen Sozialwort“.
Daneben fand Walter Sohn noch Zeit, zahleiche Aufsätze für die Kda-Zeitschrift zu schreiben, sowie für die Mitarbeit in den Gremien der Werkstatt Ökonomie Heidelberg und im ökumenisch- sozialethischen Arbeitskreis Kirche und Gewerkschaften.
Eine Beschreibung seiner eigenen theologisch-sozialethischen Positionierung findet sich in dem – gemeinsam mit Sozialpfarrer Karl-Heinz Becker und Prof. Wilhelm Fahlbusch – erarbeiteten Grundsatzpapier zu Fragen und Problemen der „kirchlich-theologischen Voraussetzungen der Industrie- und Sozialarbeit“. In der Publikation „Christus in der Arbeitswelt“ wurden sie als theologische Grundsätze für die KDA-Arbeit als Diskussionsbeitrag und zur Weiterarbeit veröffentlicht. Ein wichtiges Anliegen war damit verbunden: Geschärft werden sollte das Bewusstsein für das eigene geschichtliche Werden und für den Rang, d.h. den kirchlichen Stellenwert der Industrie- und Sozialarbeit. W. Sohn formulierte dazu einmal einprägsam: „Wer geschichtslos ist, wird gesichtslos“.
Er hat dieses Verständnis in seiner Arbeit konsequent umgesetzt. Seit 1991, dem Gründungsjahr des Vereins zur Erforschung der Geschichte der kirchlichen Industrie- und Sozialarbeit, war er bis zuletzt dessen Vorsitzender. Gerne ließ er sich, schon in seiner aktiven Beschäftigungszeit auch als Zeitzeuge zu entsprechender Berichtstätigkeit „verpflichten‘“.
Walter Sohn gehörte zur „zweiten Generation“ in der Industrie- und Sozialarbeit, die auf dem Erbe ihrer Vorgänger und prägenden Gründer aufbauen konnte. Ihnen gelang es, das Arbeitsfeld innerkirchlich weiter zu etablieren und auszubauen sowie nach außen mit Sachkompetenz zu vertreten. Ihren theologischen und sozialethischen Überzeugungen sind sie glaubwürdig, mit Beharrlichkeit und Redlichkeit gefolgt. Sie wurden so insbesondere in gesellschaftlichen Krisenlagen angesprochen und gehört. Das Wirken dieser zweiten Generation sollte entsprechend gewürdigt werden – auch wegen des schon längere Zeit feststellbaren Bedeutungsverlustes der Industrie- und Sozialarbeit in der Amtskirche. Im Sozialen Protestantismus dürfen gerade deshalb die Namen ihrer einflussreichen Vertreter, wie der von Dr. Walter Sohn, nicht in Vergessenheit geraten.