Ein Vortrag von Monsignore Peter Kossen:
“Ein Mann sitzt im Bummelzug. Bei jeder Station steckt er den Kopf zum Fenster hinaus, liest den Ortsnamen, stöhnt und lässt sich wieder in seinen Sitz fallen. Nach vier oder fünf Stationen fragt ihn besorgt ein anderer Fahrgast: „Geht es Ihnen nicht gut, dass Sie so stöhnen?“ Da antwortet er: „Eigentlich müsste ich aussteigen. Ich fahre die ganze Zeit in die falsche Richtung. Aber draußen ist es dunkel und hier im Zug ist es so schön warm …“
Eigentlich hätte man handeln können, handeln müssen, anhalten und aussteigen… Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer hat einmal gesagt, es könne die Situation eintreten, in der es für die Kirchen darauf ankäme, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen. Ich möchte Ihnen heute von Erfahrungen berichten, die mich bewegen einzugreifen, zu bremsen, Sand im Getriebe zu sein.
Jesus Christus ruft zur Umkehr auf. Sein Evangelium ist politisch, prophetisch, radikal. Propheten in der jüdisch-christlichen Tradition waren und sind sozialkritisch, sie stellen die Verhältnisse und Verhaltensregeln in Frage, denken quer. So prangert im 8. Jhdt. v. Chr. der Prophet Amos soziale Missstände in Israel an. Er, der Viehzüchter und Obstbauer, tritt im Heiligtum Bethel auf und ruft als Stimme Gottes in den feierlichen Tempelgottesdienst hinein:
„Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, ich habe kein Gefallen an euren Gaben, und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen. Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Dein Harfenspiel will ich nicht hören, sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.
Habt ihr mir etwa Schlachtopfer und Gaben dargebracht während der vierzig Jahre in der Wüste, ihr vom Haus Israel? (Am 5,21-25)
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In der Nordwest-Zeitung vom 14. März des vergangenen Jahres war folgender Bericht zu lesen:
„Sie arbeiteten bis zu 16 Stunden am Tag. Bezahlt wurden die Überstunden nicht – ungeachtet bestehender Gesetze. Sie hatten gearbeitet, so wie jeden Tag. Als sie endlich fertig waren, kam der Chef zu ihnen und feuerte sie. Fristlos. Gründe nannte er keine, „Er beleidigte uns nur“, sagt Gabriele Gheorge. Sie hatten nun keinen Job mehr: neun Rumänen, die zum Teil seit Monaten, zum Teil seit Jahren auf dem Schlachthof Oldenburg gearbeitet hatten. Was sollten sie tun? Bei Gabriel klingelte wenig später das Telefon. Der Chef war dran. Er forderte Gabriele auf, sein Zimmer zu räumen, „Du musst Platz machen für neue Leute“. Das Zimmer gehört der Firma. Gabriele kam bei Vasile Mihai unter, einem ebenfalls arbeitslos gewordenen Kollegen. Vasile hat seine Wohnung selbst angemietet. „Wir helfen uns gegenseitig“, sagt Vasile. Gabriele Gheorge und Vasile Mihai sind Angestellte der LUGO GmbH aus Duisburg. (…) Mit den rumänischen Arbeitern hat LUGO Arbeitsverträge abgeschlossen. (…) Vasile Mihai, der bereits Jahre auf dem Schlachthof arbeitet, schätzt, dass er wohl zehn verschiedene Arbeitgeber hatte. (…) seine Arbeit veränderte sich nie, nur der Firmenname.
Vasile und Gabriele sagen, ihr Arbeitstag auf dem Schlachthof begann morgens um 4 Uhr. Sie schlachteten, viertelten und verluden, so wie es der Werkvertrag vorsieht. (…)„Feierabend war, wenn wir fertig waren: um 18, 19 oder 20 Uhr“, sagt Vasile. LUGO (oder die Vorgängerfirmen) überwiesen den Arbeitern einen Lohn. Abrechnungen bekamen sie nie. Erst im Januar, nach den großen Mindestlohn-Kontrollen des Zolls in Deutschland, erhielten die Rumänen rückwirkend einen Stapel Lohnabrechnungen von LUGO. (…) Die Miete wurde vom Nettolohn wieder abgezogen. Manchmal fanden sie weitere Abzüge: Strafgelder, zum Beispiel für schlecht gereinigte Messer. Mal waren 10 Euro fällig geworden, mal 60 Euro, vereinzelt sogar 110 Euro. Was die Rumänen auf der Abrechnung nicht fanden, waren Nachweise über ihre geleisteten Arbeitsstunden. Die Arbeiter kamen nach eigenen Angaben im Monat häufig auf 230, 250 oder 270 Stunden, im Einzelfall sogar auf 300 Stunden. Der ausgezahlte Bruttolohn (…) bewegte sich zumeist zwischen 1400 und 1600 Euro. Manchmal lag er auch deutlich darunter. 1600 Euro für 250 Arbeitsstunden entsprechen einem Stundenlohn von 6,40. Bei 300 Stunden sind es nur 5,33 Euro. „Eigentlich wurden wir die ganze Zeit behandelt wie Sklaven“, sagt Gabriele Gheorge.“
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Und auch dies ist Fakt: Junge Frauen und Mädchen, oft Analphabetinnen aus Bulgarien und Rumänien, werden mit dem Versprechen guter Arbeit nach Deutschland gelockt und hier dann in großer Zahl zur Prostitution gezwungen!
Das System stützt sich vielfach ab auf das skrupellose Geschäft krimineller Subunternehmer. Ihrer Willkür und Gier sind Werkvertrags- und Leiharbeiter häufig schutzlos ausgeliefert. Unternehmer, die das in ihren Unternehmen dulden, sind mitschuldig an moderner Sklaverei!
Ich bin überzeugt: Wenn es uns nicht gelingt, menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen auch für Migranten zu garantieren, dann verrotten unsere Werte von Innen! All das, worauf wir in unserer Region stolz sind: Fleiß, Innovation, Mut und auch unser Gemeinschaftsgefüge verrottet von Innen, wenn es uns nicht gelingt, Rechte und Gerechtigkeit allen zugänglich zu machen, auch den Migranten!
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Diesen Vortrag hielt Monsignore Kossen am 5.10. 2016 in Hannover im Rahmen der Ausstellung Bitter Oranges. Die Ausstellung zeigt erschütternde Fotos und Berichte über die Situation von MigrantInnen in der Orangenernte in Südeuropa. Vergleichbare Zustände finden sich in der Fleischindustrie in Norddeutschland und noch an vielen anderen Orten in Europa. Der Vortrag ist ein dringender Aufruf – insbesondere an Christen -, die Augen nicht weiter zu schließen!
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