Die Fragen nach einer modernen Arbeitszeitpolitik sind Teil der Frage nach einem sozialen Europa. Die soziale Frage ist zwar im Lissabon-Vertrag mit aufgenommen worden, gleichzeitig wird dort wegen der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf die Beschränkung der Rolle der EU in diesem Bereich verwiesen.
Für die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) spielt in ihrer Vorbereitung für ihre Tagung im November 2016 mit dem Schwerpunktthema „Europa“ die spezifisch soziale Frage eine untergeordnete Rolle. Angesichts des Brexit soll der Fokus eher auf ein grundsätzliches Bekenntnis zu Europa, auf die Solidarität in der Flüchtlingsfrage und auf Europa als Friedensprojekt gelegt werden.
Umso wichtiger ist es, immer wieder soziale Fragen als gemeinsame europäische Fragen zu thematisieren, andernfalls verliert die Wirtschafts-Gemeinschaft mehr und mehr an Substanz und Zusammenhalt.
Der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt (KDA) hat in Hannover Ende Mai 2016 gemeinsam mit Kooperationspartnern eine Arbeitszeitkonferenz mit dem Thema „Wem gehört die Zeit? – Mehr Zeit für uns!“ durchgeführt. Ein wesentliches Ziel war die Diskussion darüber, wie Arbeitszeiten so gestaltet werden können, dass die Gesundheit von Beschäftigten erhalten bleibt und dass es eine gute Vereinbarkeit von Arbeitszeiten zu der Zeit gibt, die einem sonst im Leben noch zur Verfügung steht für Beziehungen zu anderen Menschen, für Familie, für Freizeit, für einen selbst, für die Erziehung von Kindern, für die Pflege von Angehörigen.
Manche Erfolge in Arbeitszeitregelungen konnten in der Vergangenheit erzielt werden. Sie reichen aber nicht mehr für die aktuellen Veränderungen in der Arbeitswelt. So gibt es z. B. in Deutschland eine starke Zunahme von Teilzeitstellen und Minijobs. Jeder Arbeitnehmende leistet im Schnitt pro Jahr 50 Überstunden, das sind in der Summe mehr als 1 Milliarde Stunden im Jahr. Durch Arbeitsbelastungen und -verdichtungen nehmen Erschöpfung und (psychische) Erkrankungen zu. Das traditionelle Muster der gleichförmig portionierten Arbeitszeit wird abgelöst durch variable Arbeitszeiten.
Als Ergebnisse und zugleich als Anforderungen für die Diskussion auf europäischer Ebene wurde u. a. Folgendes festgehalten:
- Arbeit muss stärker von jeweiligen Familienbedarfen her definiert werden.
- Dies beinhaltet einen potentiellen Zielkonflikt: Das „System Familie“ lebt grundsätzlich aus Stabilität, Ruhe und Vorhersehbarkeit. Die Arbeitswelt und wirtschaftliche Erfordernisse verlangen dagegen hohe Flexibilität und das ständige Reagieren auf den Markt.
- Eine gerechtere und zufriedenstellendere Arbeitszeitverteilung wäre möglich, wenn z. B. Arbeitszeiten stärker an den Lebenslauf angepasst werden.
- „Lange Teilzeit“ – zwischen 20 und 28 Stunden – und „kurze Vollzeit“ – zwischen 28 und 35 Stunden – würden voraussichtlichen vielen Arbeitnehmenden entgegenkommen.
- h. auch: Die Forderung nach einer großen allgemeinen Arbeitszeitverkürzung ginge mittlerweile an den Wünschen vieler Beschäftigten vorbei ebenso wie an den Verhältnissen der im globalen Wettbewerb stehenden Betriebe.
- Die Verantwortung für familienbezogene Arbeitszeitregelungen liegt bei Arbeitgebern und Betriebsräten/Gewerkschaften und der Politik. Arbeitnehmer, Manager und Führungsverantwortliche müssen wegkommen von dem „Zwang“, sich in ihrer Arbeitstaktung selbst (individuell) optimieren zu müssen.
- Dies gilt in hohem Maße erst Recht in der digitalisierten Arbeitswelt „Arbeiten 4.0“. Im Idealfall entspricht das Arbeiten im „Homeoffice“, losgelöst von festen Arbeitsorten und -zeiten, dem Wunsch von Beschäftigten nach flexibleren und familiengerechteren Arbeitszeiten. Dem steht die Gefahr der Entgrenzung von Arbeitszeiten entgegen. Schutzregelungen müssen der potentiellen Selbstüberschätzung und Selbstausbeutung Einhalt gebieten.
- Wichtigstes Ziel für die Kirchen ist es, dass in allem Wandel der Arbeitswelt der Mensch nicht unter die Räder kommt. Die Würde und die Gesundheit des Menschen müssen erhalten bleiben.
- Darüber hinaus geht es noch viel grundsätzlicher um das Wohlergehen unserer Gesellschaft und um einen nachhaltigen sozialpolitischen Frieden in Europa.