Ein Beitrag von Heike Riemann / KDA Nordkirche

Bereits seit  2004 ist Tschechien Mitglied der Europäischen Union. Das mitten in Europa gelegene Land liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland. Beide verfügen nicht nur über eine 810 km lange gemeinsame Grenze, sondern auch über viele Gemeinsamkeiten. Und doch gibt es gerade im sozialen Bereich und beim Thema Arbeit große Unterschiede.

Eine von „Arbeit und Leben  Hamburg e.V. “ organisierte Delegiertenreise von Gewerkschaftern, Bildungsexperten und Abgeordneten der Hamburger Bürgerschaft bot Gelegenheit zu Einblicken in arbeitsweltliche Strukturen und in den tschechischen Alltag. Heike Riemann von Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt der Nordkirche reiste mit:

Nur 4, 5 % beträgt zur Zeit die Arbeitslosenquote in Tschechien und ist damit der deutschen ähnlich. Es herrscht quasi Vollbeschäftigung und das Stichwort „Fachkräftemangel“ begegnet uns immer  wieder in den Gesprächen mit Gewerkschaft, Verwaltung und Politik. Dabei waren die vorhandenen Fachkräfte in den 90er Jahren mit ausschlaggebend für die Ansiedlung deutscher Industrieunternehmen, die Tschechien (bis 1993 Tschechoslowakei)  als klassisches Industrieland mit vergleichbaren beruflichen Qualifikationen aber deutlich günstigeren Löhnen für sich entdeckten. Heute sind rd. 4000 deutsche Unternehmen in Tschechien tätig und Deutschland ist mit der wichtigste Handelspartner.

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Eigene Wege in der Ausbildung

Seit Mitte der 90iger Jahre setzt Tschechien vor allem auf schulische und akademische Ausbildung. Die bis dahin existierende duale Ausbildung wurde nicht fortgeführt, so dass heute rund 80 % der Schülerinnen und Schüler studieren.  Die rd. 250 existierenden Berufsschulen bilden zumeist unabhängig von betrieblichen Bedarfen aus. Große Firmen wie Skoda und Bosch unterhalten deshalb eigene Berufsschulen. Unter den Schulen gibt es aber auch welche, die vorbildlich mit Betrieben zusammenarbeiten. So besichtigen wir eine Maschinenfabrik, auf deren Gelände auch die Berufsschule liegt und eine engere, als übliche Zusammenarbeit gepflegt wird. Mit Freude und Zustimmung wird dort die Anfrage aus der Delegiertenrunde aufgenommen, ob sich dieser Kontakt nicht durch die Beteiligung an einem internationalen Austauschprogramm für Auszubildende in Deutschland intensivieren ließe. Vielleicht kommen nun schon bald tschechische Berufsschüler für ein paar Wochen in Betriebe nach Hamburg und lernen deutsche Auszubildende den tschechischen Arbeitsalltag kennen.

Im Gespräch mit dem tschechischen Unternehmensverband erfahren wir von einer weiteren, neuen Möglichkeit des Erwerbs von Berufsabschlüssen. In kleinteiliger Arbeit haben Mitglieder des Verbandes und des Schulwesens in den vergangenen acht Jahren an einer Kategorisierung von über 1500 Berufen gearbeitet und festgehalten, welche Qualifikationen und Kompetenzen jeweils notwendig sind. Zusätzlich haben sie Standards für die Bewertung dieser Kompetenzen festgelegt, so dass Interessierte, sofern sie die Kosten tragen, durch Prüfung nun auch über Praxis erworbene oder durch informelle Bildung erreichte Kenntnisse attestiert bekommen können  So existiert nun ein zweiter Weg der anerkannten beruflichen Qualifikation.

Der Ausländeranteil Tschechiens ist gering. Nur ca. 5 %  der Einwohner Tschechiens sind Ausländer. Zu denjenigen, die zu Studienzwecken oder zum Arbeiten ins Land kommen, gehören überwiegend Menschen aus der Ukraine, Vietnam, der Slowakei oder der russischen Föderation. Wer Prag besucht, bekommt allerdings einen ganz anderen Eindruck. Nicht nur ist hier der Anteil der in Prag lebenden Ausländer deutlich höher, auch durch die zahlreichen Touristinnen und Touristen und das Nebeneinander verschiedenster Kulturen erscheint diese Stadt sehr international.

Trotz etwas günstigerer Preise in den Restaurants und Lebensmittelgeschäften bleibt angesichts von rd. 1000,- Euro Durchschnittslohn  in Tschechien die Frage: Wie kommen die Menschen zurecht, insbesondere , da wir immer wieder auch hören, dass es auch rd. 400- Euro Einstiegslohn sein können.  Kein Wunder, dass ausländische Firmen im Ansehen hoch im Kurs stehen, sie zahlen oft mehr als einheimische Betriebe. Und kein Wunder, dass bei dem Streit – der zur Zeit vor der EU-Kommission ausgetragen wird – ob mit Einführung des deutschen Mindestlohnes Deutschland berechtigt war, auf Zahlung dieses Lohnes auch für oder nach Deutschland liefernde LKW-Fahrer aus dem Ausland bestehen zu können, tschechische Transportunternehmen um Wettbewerbsvorteile durch günstigere Löhne bangen, Der Gewerkschaftschef jedoch ermutigt: „Gleiche Arbeit am gleichen Ort braucht gleiche Bezahlung“.

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Prager Gewerkschaftshaus – das erste Hochhaus Prags aus dem Jahr 1931

Kaum Betriebsräte

Tschechien hat auch bei Fragen der Mitbestimmung im Betrieb und der Interessensvertretung von ArbeitnehmerInnen einen eigenen Weg gewählt: Statt Betriebsräten nehmen, wenn vorhanden, betrieblich organisierte Gewerkschaften Interessensvertretung in den Betrieben wahr. In der Praxis gibt es nur wenige Betriebsräte, und die Gewerkschaftsorganisation auf betrieblicher Ebene ist die vorherrschende Struktur. In der Mehrheit der Betriebe gibt es jedoch weder eine Gewerkschaft noch einen Betriebsrat. Überbetrieblich gibt es verschiedene, miteinander konkurrierende Gewerkschaftsbündnisse, aber es ist auch möglich, dass eine Betriebsgewerkschaft keinem übergeordneten Dachverband angehört.  Auch Tarifverträge werden überwiegend auf betrieblicher Ebene abgeschlossen.

Bei wirtschaftspolitischen Fragestellungen von nationalem Interesse hingegen gibt es das Instrument des Tripartistischen Rates.  Staat, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen  beraten gemeinsam über die nationale Wirtschaftspolitik und zu Stellungnahmen in EU-Angelegenheiten.

Im Laufe unseres Besuches wächst aus den Gesprächen auch ein Gespür: Wirtschafts- und Arbeitsleben scheinen „härter“ organisiert,  noch öfter als bei uns scheint die Frage  „wer bezahlt es“, die entscheidende zu sein. Vor allem aber entsteht der Wunsch nach weiteren Gelegenheiten, nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede kennenzulernen, sondern sich noch mehr mit den Menschen auszutauschen, zu diskutieren, zu vergleichen: Was ist mir wichtig, was Dir, und was ist das Gemeinsame. Wir sind, so scheint es, erst auf dem Weg zu einem Europa, aber auf dem Weg. Mit derartigen Gedanken geht es nach Hamburg zurück. Und der Frage: Wie lassen sich solch wichtige Begegnungen auch aus unserer Kirche heraus noch stärker mit befördern.