Von Dr. Ralf Stroh, Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung

Kerngedanke der Sozialen Marktwirtschaft ist, dass die Wirtschaft dem Menschen dienen soll und nicht umgekehrt. Dieser Grundsatz wird von niemandem ernsthaft bestritten, der Verantwortung in der Wirtschaft und für die Wirtschaft in unserer Gesellschaft hat. Welcher ökonomischen Schulrichtung man auch zugehören mag, ob man gewerkschaftsnah verortet ist oder mit unternehmerischem Blick auf die Wirtschaft schaut: dieses Credo teilen ausnahmslos alle.

Die Unterschiede machen sich aber sofort bemerkbar, wenn es um die Frage geht, auf welche Weise die Wirtschaft dem Menschen am besten zu dienen vermag. Um zu dem Ziel zu gelangen, dem Menschen zu dienen, werden sehr unterschiedliche Wege vorgeschlagen. Über diesen Streit um den richtigen Weg wird die interessierte Öffentlichkeit täglich in den Medien ausführlich informiert.

An dieser Suche beteiligen sich auch die Kirchen. Sofern sie mit ihren Voten die Auffassung einer ökonomischen Schulrichtung unterstützen, wird diese Beteiligung gerne gesehen und mit dem Hinweis versehen, dass „sogar“ die Kirchen verstanden hätten, worauf es ankäme. Stehen die Kirchen dagegen einem Lösungsvorschlag ablehnend gegenüber, wird regelmäßig darauf verwiesen, dass ihnen der nötige Sachverstand fehle und ihr Votum nicht ernstzunehmen sei – und außerdem sei der Gegenstand ihrer Besinnung ja wohl ein ganz anderer als das Wirtschaften des Menschen.

Dieser letzte Hinweis ist sachlich völlig berechtigt. Der Gegenstand der kirchlichen Besinnung ist in der Tat ein anderer als das Wirtschaften des Menschen. Gegenstand der kirchlichen Besinnung ist das ganze Leben

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des Menschen aus der Perspektive des christlichen Glaubens. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist das Wirtschaften ein wesentlicher Teil des menschlichen Lebens, aber eben nicht das ganze Leben des Menschen.

Für alle diejenigen, die diese Auffassung teilen – dass das Wirtschaften nicht das Ganze des menschlichen Lebens umfasst –, kann die Antwort auf die Frage, wie denn die Wirtschaft dem Menschen am besten dienen könne, nur dadurch gefunden werden, dass man den ganzen Menschen in den Blick fasst. Jenen Menschen, zu dessen Leben mehr und anderes hinzugehört, als nur das Geschehen am Markt.

Sachgemäß Wirtschaften kann nur, wer dieses Wirtschaften am ganzen Menschen ausrichtet. Es ist also geradezu ein Ausweis ihrer Professionalität, wenn Ökonominnen und Ökonomen in ihrer Arbeit einen intensiven Austausch mit all jenen Disziplinen pflegen, die den Menschen aus noch weiteren Perspektiven als der ökonomischen Perspektive betrachten und es ist ebenso ein Ausweis ihrer Professionalität, wenn sie auch die Fülle ihrer eigenen, das Ökonomische überschreitenden und zugleich integrierenden Lebenserfahrungen in ihrer fachspezifischen Reflexion nicht ausblenden.

Niemand geringerer als Wilhelm Röpke, einer der Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft unter Ludwig Erhard, hat auf diese Einsicht in einem Werk hingewiesen, das den programmatischen Titel trägt: „Jenseits von Angebot und Nachfrage“. In Abwandlung eines Spruches von Georg Christoph Lichtenberg formuliert Röpke in diesem Buch: „Wer nur von der Nationalökonomie etwas versteht, versteht nicht einmal diese“.

Die Ablehnung kirchlicher Voten zu Fragen einer menschengemäßen gesellschaftlichen Einrichtung der Wirtschaft einzig mit der Begründung, dass diese Voten nicht aus der Fachperspektive der Ökonomie erfolgten, offenbart folglich ein wenig professionelles Verständnis der Voraussetzungen ökonomischer Expertise.

Die Güte kirchlicher Voten zur Integration der wirtschaftlichen Lebensbezüge des Menschen in seine ganze Existenz ist allerdings davon abhängig, dass diese kirchlichen Voten ihrerseits nun nicht einfachhin die ökonomische Perspektive um eine weitere einzelne Perspektive ergänzen – eben die „kirchliche“ bzw. die „theologische“ – und diese neben die ökonomische Perspektive stellen. Auch die „kirchlichen“ Lebensbezüge des Menschen machen ja nicht seine ganze Existenz aus, sondern sind eingebettet in das Ganze seiner Lebenspraxis.

In den Blick genommen werden muss daher genau der Punkt, an dem alle Lebensbezüge des Menschen zusammengefasst sind: die Erfahrung des Menschen. Hier entscheidet sich, ob unser Nachdenken über die dem Menschen gemäße Lebenspraxis diesem Menschen tatsächlich gerecht wird oder Entscheidendes ausblendet. Nicht umsonst lautet jener meist unterschlagene unter Luthers „Sola“-Sprüchen: „Sola experientia facit theologum“. Allein die Erfahrung macht den Theologen.

Nun ist für Luther völlig klar gewesen, dass die Erfahrung des Menschen zuweilen trügerisch ist. Diese Einsicht ist selbst bereits ein Ertrag der menschlichen Erfahrung. Um dem trügerischen der Erfahrung zu begegnen, ist für Luther aber nicht der Ausstieg aus der Erfahrung geboten, sondern ganz im Gegenteil die Steigerung der Erfahrungsbezüge: Das kirchliche Miteinander kann nur dann auf eine Weise gestaltet werden, die dem wirklichen und nicht dem eingebildeten Menschen angemessen ist, wenn die Vielfalt der Erfahrungen aller sich gegenseitig inspiriert und Deformationen bzw. Verkürzungen der individuellen Erfahrungen korrigiert.

Weil ausnahmslos alle Menschen irren können – der Papst ebenso wie Konzilien –, weil sie ihre Erfahrungen missdeuten oder verdrängen können, ist es notwendig, dass wir in der Einrichtung unseres Zusammenlebens dafür offen bleiben, unsere Entscheidungen durch bessere Einsicht auch wieder korrigieren zu lassen.

Es ist genau diese Haltung, in der einem jeden von uns zugemutet – aber eben ohne Ausnahme auch jedem zugetraut – wird, alle überkommenen Deutungen und Institutionen unserer Lebenswelt an der je eigenen Erfahrung zu überprüfen, welche die Grundlage der besonderen Art ist, wie Kirche aus der Perspektive der reformatorischen Theologie Verantwortung für die Gestaltung ihrer selbst als Institution und die Gestaltung der Gesellschaft, in der sie beheimatet ist, übernimmt.

So hat Friedrich Schleiermacher ganz im Sinne Luthers die Aufgabe des kirchenleitenden Handelns darin gesehen, für die unverkürzte „Circulation des religiösen Bewußtseins“ in der Kirche zu sorgen. Das Studium der Theologie vermittelt nicht die Kompetenz, über die christliche Wahrheit zu verfügen und diese dann den Gemeindegliedern zu übermitteln. Es vermittelt vielmehr lediglich die Kompetenz, aufgrund der Einsicht in die Notwendigkeit gemeinsamer Wahrheitssuche für die hierfür notwendigen institutionellen Rahmenbedingungen zu sorgen, sicherzustellen, dass störende Einflüsse nach Möglichkeit behoben werden und sich selbst mit seinen eigenen Glaubenserfahrungen in dieser „Circulation des religiösen Bewußtseins“ einzubringen.

Es muss den Pfarrer oder die Pfarrerin nicht in ihrer Berufsehre kränken, wenn zuweilen einfache Gemeindeglieder treffendere Worte des Trostes finden oder einen bestimmten Punkt des christlichen Glaubens anschaulicher erläutern können als sie selbst. Und so etwas sollte auch Gemeindeglieder nicht an ihrer Pfarrerin oder ihrem Pfarrer zweifeln lassen. Denn dass das so sein kann, entspricht ja genau der Einsicht Luthers, dass wir alle darauf angewiesen sind, einander Anteil zu geben an den Erfahrungen, die wir mit diesem Leben und unserem Glauben machen. Und was so für Pfarrerinnen und Pfarrer gilt, gilt gleichermaßen für Ökonominnen und Ökonomen. Es muss sie nicht in ihrer Berufsehre kränken, wenn bisweilen einfache Mitmenschen einen Hinweis zum menschengemäßen Wirtschaften geben können, der ihnen selbst bisher verborgen war.

Es ist genau diese Haltung, die für die gesellschaftliche Umwelt der Kirche heilsam und inspirierend sein kann: Nämlich die Gesellschaft als Ganze so einzurichten, dass nicht nur die Erfahrungen von Experten zählen, die doch selbst auch nur über einen begrenzten Erfahrungsschatz verfügen, sondern alle Erfahrungen miteinander ins Gespräch gebracht werden. Weil nur so bei den Entscheidungen, wie wir unsere Gesellschaft einrichten wollen, auch wirklich alles, was zum menschlichen Leben gehört, berücksichtigt werden kann:

Wenn die Wirtschaft wirklich dem Menschen dienen soll, dann muss der ganze Mensch öffentlich zur Sprache gebracht werden. Daran hat Kirche mitzuwirken. Als Institution, die öffentlich Stellung nimmt – nicht zuletzt am Buß- und Bettag. Und als Institution, deren Mitglieder mutig ihre eigenen Erfahrungen ernst nehmen, und sich dort, wo immer sie jeweils Verantwortung tragen, dafür einsetzen, dass die Fülle des menschlichen Erfahrens bei der Gestaltung unseres Miteinanders zum Tragen kommt – in der Wirtschaft und darüber hinaus.