Liebe Gemeinde!

Europa droht zu zerfallen, in Nationalismen und in Reich und Arm. Es droht einen Krieg gegen Benachteiligte und Arme zu führen, im eigenen Land und in Europa. Wie wäre dagegen der Krieg aller gegen alle zu beenden: durch Geld oder Gott? Europa hat eine gemeinsame Vergangenheit der Hoffnung auf Zukunft und Frieden. Das Gemeinsame der Geschichte in europäischer Vielfalt zu entdecken, wäre mit Walter Benjamin einen neuen Versuch wert, heute einen Krieg zu beenden:

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen …“ (Über den Begriff der Geschichte, These IX)

Dieser Engel der Geschichte täte uns als Kirche und Gemeinde in der Nachfolge Jesu Christi not, wenn wir am Buß- und Bettag im Jahr 2018 aus der Apokalypse des Johannes hören:

 

  • Dem Engel derer, die berufen sind, in der Stadt Laodizea, schreibe: So spricht der, der das Amen über unser Leben sagt, der Zeuge, der treu und wahrhaftig ist als der Anfang der Schöpfung Gottes.

Wer aber wäre berufen, ein solcher Engel für uns im gemeinsamen Europa zu sein? Wer könnte in Gottes Namen uns vor Irrwegen warnen und das Richtige raten, für Mit-Menschen als Gottes Geschöpfe wahr zu nehmen und füreinander aufrichtig Sorge zu tragen? Grenzen sich aber Europas Nachbarn und wir selbst durch Zäune voneinander ab, droht uns selbst geistig-leibliche Verarmung. Der Engel könnte uns in der Nachfolge Jesu erinnern, die Vielfalt der Menschen und ihrer Geschichte in Europa und anderswo als Reichtum zu erkennen.

Die Christen, von den denen die Bibel hier spricht, haben in der Stadt Laodizea nur ihren eigenen Reichtum vor Augen: Laodizea ist ein berühmter Wirtschafts- und Handelsplatz, ein begehrter Studienort der Medizin, eine mit heißen Quellen gesegnete Wellness-Oase für gestresste Manager und Militärs und ihre Gattinnen jener Zeit, und bekannt als Platz für Anlagevermögen. Da gilt damals wie heute: “Money, money, money / Must be funny / In a rich man’s world.” (Abba)

Wenn das Europa unserer Zeit in Nationalismen und in Arm und Reich zerfällt: Auf wen oder was berufen wir unsern Wohlstand, in dem wir uns – auf Dauer? – eingerichtet zu haben wähnen? Wer spricht – in der Geschichte – das letzte Wort, das A und O über uns? Wer sagt Amen zu diesem unseren reichen armen Leben? Und hat das letzte Wort?

 

  • Ich weiß von deinen Werken, dass du weder kalt noch heiß bist, wärst du doch bloß kalt oder heiß.

Reichtum kann leicht die Augen blenden und Wohlstand die Wahrnehmung für andere Menschen verstellen. Wenn sich Kirche als Gemeinde in der Nachfolge Jesu Christi versteht und auf den Gekreuzigten und Auferstandenen beruft: Wo stehen wir als seine Gemeinde – in einer sich verfestigenden Hartz-IV Gesellschaft? Tun sich da die Schattenseiten und Abgründe unseres Wohlstands auf?

Was bedeutet dann aber unser sich Berufen auf Glaube, Hoffnung und Liebe vor dem Ausspruch Jesu: „Niemand kann zwei Herren dienen … Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ (Mt 6, 24). Nationalismen und einen Krieg zwischen Arm und Reich zu beenden, erscheint als Konsequenz unausweichlich, wenn die Gemeinde hier hört:

 

  • So aber zeigst du dich als weder heiß noch kalt, darum werde ich dich ausspucken aus meinem Mund.

Nachweislich jüngster archäologischer Erkenntnisse gab es in der Stadt Laodizea (nahe Pamukkale) heiße Quellen. Damals schon eine Touristenattraktion. Wer es sich leisten konnte, Militärs und Banker, begab sich dort zur Kur.

Heiß oder kalt? Das war früher ein unter uns Kindern das beliebte Spiel von „Blinde Kuh“: „Heiß“ bedeutete: „Nah dran“, und „ganz kalt“ war weit weg. „Lau“ ging dagegen gar nicht, da gab es keine Orientierung, das ließ einen in die Irre gehen.

Gibt es nur kalt oder heiß und daher kein Ausweichen vor der Konsequenz, den Krieg der zwischen Arm und Reich und die Konkurrenz der Nationen zu beenden? Wenn wir heute Grenzen gegen andere errichten, Reich gegen Arm und Nachbarn gegen Fremde: Wer garantiert uns, dass wir morgen nicht selbst ausgegrenzt und hinausgeworfen werden aus der feinen Gesellschaft? Vom Winde verweht? Sollte am Ende Brecht Recht behalten:

„Dem Geld erweisen die Menschen Ehren.
Das Geld wird über Gott gestellt.
Willst du deinem Feind die Ruhe im Grab verwehren.
Schreibe auf seinen Stein: Hier ruht Geld.“?
(Bert Brecht, Mahagonny).

Der Engel hält der Gemeinde und damit uns die Wahrheit vor Augen:

 

  • Du sagst: Ich bin reich und bin im Wohlstand, und bin nicht angewiesen auf Unterstützung anderer. Aber du weißt nicht, dass du erbärmlich bist, armselig, blind und nackt.

Ist alles eine Frage der Perspektive, wie uns das Märchen von ‘Des Kaisers neue Kleider’ lehrt? Vor einigen Jahren war auf Autoaufklebern der Spruch zu lesen: „Eure Armut kotzt mich an“ Doch worauf gründet unser Reichtum in Europa? Und von wem und um welchen Preis wurde und wird ein oft fragwürdiger Fortschritt erkauft? Von Ländern anderer Erdteile und dem Gefälle zwischen Arm und Reich. Am Buß- und Bettag sollten Christinnen und Christen Ehrlichkeit mit sich selbst und Aufrichtigkeit gegenüber der Geschichte Europas in ihrer Vielfalt einüben. Wir können uns in Gottes Namen um Christi Willen ermutigen lassen, die Schere zwischen Arm und Reich sich nicht weiter öffnen zu lassen und ‘heute einen Krieg zu beenden’, denn die Bibel lehrt uns:

„… ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr. (Jer 9, 22f.).

Der Engel Gottes der Gemeinde Gottes lehrt auch uns heute:

 

  • Ich rate dir: Kaufe feuerfestes Gold von mir, damit du dich reich nennen kannst, und weiße Kleider, damit du dich angemessen kleiden kannst und deine Nacktheit nicht offensichtlich wird, und Salbe, um deine Augen zu behandeln, damit du (klar) siehst.

Am Golde hängt. Zum Golde drängt. Alles, so sagt Goethe im Faust. ‘Feuerfestes’ Gold? Mit Ironie wird uns unsere Selbsttäuschung vor Augen geführt, denn: Geld macht blind, vor allem für die Not anderer. Dem gegenüber gilt das ärgerliche Wort Jesu: „Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt.“ (Mt 19, 24).

Kleider machen Leute, so sagt der Volksmund. Darum unterscheidet sich Reichtum immer noch gern äußerlich von den Zeichen der Armut derer, die sich mit Hartz-IV nicht die teuren Klamotten leisten können und auch deswegen Ausgrenzung in Schule und Gesellschaft erleiden.

Laodizea war eine Modestadt und besonders berühmt für seine Textilien in Schwarz. Dem setzt der Engel den Kontrast entgegen. Die Gemeinde soll als Leib Christi in ihrer Kleidung keine Unterschiede hervorheben.

Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen, heißt es in der Bibel (Apg 9, 18). In Laodizea wurden kostbare Salben hergestellt und es war berühmt für seine Augenheilkunde. Damals wie heute sind die Wunschproduktionen die gleichen. Die Kundschaft wünscht, was gut und teuer ist. Wer reich ist, kann sich Wohlstand leisten. Die andern sind und bleiben eben arm. So unterscheiden sich Menschen voneinander. Doch die Bibel und Paulus lehren die Gemeinde, sich und einander mit anderen Augen zu sehen: „Stellt euch nicht der Welt gleich, sondern lasst eure Wahrnehmung verändern, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist: das Gute, Angemessene und Vollkommene“ (Röm 12,2). Darum hört die Gemeinde hier:

 

  • Denen, die ich liebe, setze ich Widerstand entgegen, und erziehe sie dazu, anders zu denken. Gemeinde, nimm’s dir zu Herzen und wähle also den besseren Weg.

Ganz wie Paulus sagt: „ich will euch einen noch besseren Weg zeigen … Glaube, Hoffnung, Liebe…“ (1.Kor 12,31; 13,13). Du Gemeinde, sieh also zu, dich eines anderen zu besinnen als der Sorge um deinen geldbestimmten Reichtum. Denn es klopft einer unerwartet an die Tür. Sind wir darauf vorbereitet zu hören und lernen – als seine Gemeinde?

Da Jesus Christus selbst es ist, der anklopft und ruft, lehrt ER die Gemeinde, unsere Kriege zu beenden und seine Ethik des Friedens zu lernen. In menschlicher Begegnung kommt er uns nah, wenn er sagt:

 

  • Sieh’, ich steh’ vor der Tür und begehre Einlass. Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür öffnet, trete ich ein, komme zu ihm und esse mit ihm.

Wer steht draußen? Europa steht vor der Tür. Darum wird es Zeit, heute einen Krieg der Nationalismen und zwischen Arm und Reich zu beenden. Europa verändert sich mit den Menschen: „Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden die zu Tisch sitzen im Reich Gottes.“ (Lk 13, 29). Wir sind als Gemeinde gefragt: Für wessen Stimme sind wir empfänglich? „Wenn es heißt: ‘Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht…’.“ (Hebr. 3, 15). Mit wem wollen wir uns an einen Tisch setzen? Trauen wir uns am Ende gar selbst nicht über den Weg, mit unserer Ichsucht, unserer Angst und unserem Kleinglauben? Würden wir uns mit uns mit uns selbst an einen Tisch setzen, um Brot und Wein zu teilen, wie Jesus sagt? „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25, 40). Den Krieg in uns und mit uns selbst beendet ER heute und hier. So lautet seine er-lösende Botschaft für die Gemeinde:

 

  • Dein Erfolg wird sein, zusammen mit mir Verantwortung zu teilen, so wie mein Vater mit mir Verantwortung geteilt hat.

Die Haltung als Gemeinde in der Nachfolge Jesu Christi soll nicht in irdischer Skepsis enden: „The Winner takes it all / And the Loser has to fall.” (Abba), sondern „Ein Stück vom Himmel, ein Platz von Gott…“ (Herbert Grönemeyer) gilt als Zusage und Ermutigung, in Gottes Namen heute den Krieg der Nationalismen und zwischen Reich und Arm zu beenden. Aus diesem Geist soll und kann die Gemeinde in der Nachfolge Jesu Christi einen Krieg beenden, Zukunft und Frieden gewinnen:

 

  • Wer Ohren hat zu hören, höre, was der Geist den Gemeinden sagt.

Geschichte zu erinnern, so lehrt die jüdische Weisheit (Baal Schem Tob), birgt das Geheimnis der Erlösung. Mit Walter Benjamin kann uns der Engel lehren, heute den Krieg, den Zwiespalt in uns selbst, zu beenden. Denn er, der Engel der Geschichte, „ hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. … Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm“. Die Vergangenheit hat Europa beinahe in den Untergang geführt. Wo hingegen Menschen aus der Geschichte gemeinsam in Verantwortung menschlich gestalteter Zukunft handeln lernen und Frieden zu stiften, entsteht Neues im Geiste Jesu. SEINEM Geist zu folgen heißt gleich zu sein „den Menschen, die auf ihren Herrn warten …, damit, wenn er kommt und anklopft, sie ihm sogleich auftun./ Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. … Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr’s nicht meint.“ (Lk 12, 40). Amen.

 

Literatur:

  • Christof Bäumler, Godwin Lämmermann, Falk Wagner: Friedenserziehung als Problem von Theologie und Religionspädagogik, München, Christian Kaiser 1981
  • Falk Wagner: Geld oder Gott. Zur Geldbestimmtheit der kulturellen und religiösen Lebenswelt, Klett-Cotta Stuttgart 1985
  • Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M. 2009

 

Hinweis: der Texte enthält eigene Übertragungen aus dem Griechischen ins heutige Deutsch.

Karl-Ulrich Gscheidle
Wirtschafts- und Sozialpfarrer
Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt (KDA), Prälatur Reutlingen
Federnseestraße 4
72764 Reutlingen
Telefon: 07121-161771

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