Wenn von Arbeitnehmerfreizügigkeit die Rede ist, kommen uns fast automatisch die bedrückenden Bilder von Großschlachtbetrieben aus den letzten Monaten in den Sinn.

Aber es gibt noch mehr Facetten. Nehmen wir z.B.  die einstmals viel beschworenen Effekte von „Brain Drain“ und „Brain Gain“. Gemeint sind damit v.a. eher negative Folgen für Länder, die qualifizierte Fachkräfte durch Abwanderung verlieren. Auf der anderen Seite stehen meist positive Folgen für die Zielländer. Noch vor fünf Jahren fanden diese Begriffe häufig den Weg in die Medien. Ausgelöst wurde die große Aufmerksamkeit  u.a. durch starke innereuropäische Wanderungsbewegungen (Schellinger, A. (Hrs.): Brain Drain – Brain Gain: European Labor Markets in Times of Crisis, Friedrich-Ebert Stiftung 2015-2017, S. 5 . Doch mittlerweile ist es darum deutlich ruhiger geworden.

Das heißt aber nicht zwingend, dass Brain Drain und Gain heute bedeutungslos sind: Die Migration von Fachkräften gehört weiterhin zur europäischen Realität. Natürlich zählt die arbeitsbezogene Mobilität zu den Grundsäulen der Binnenmarktentwicklung. Und ja, sie kann Schwankungen in Angebot und Nachfrage ausgleichen. Gleichzeitig sucht nämlich auch der deutsche Arbeitsmarkt händeringend: Die Bereiche Handwerk oder Pflege/medizinisches Fachpersonal seien hier exemplarisch genannt.  Für Arbeitende tun sich somit auch neue Chancen zur Existenzsicherung, Weiterentwicklung und Gestaltung der eigenen Zukunft auf. Und Fachkräfte aus dem Ausland sind unverzichtbarer Teil unserer Systeme: Im Jahr 2017 waren z.B. ca. 22.000 Ärzt*innen aus EU-Mitgliedsländern in Deutschland berufstätig (Ärztestatistik zum 31. Dezember 2017, Abruf am 31.08.2020 unter https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/Statistik2017/Stat17AbbTab.pdf  , S.34).

Klingt doch prima, also alles gut? Ja, vorausgesetzt wir wähnen uns auf einer einsamen Insel. Aber die EU kann mehr sein als nur ein loser Zusammenschluss von Staaten. Es ist im besten Fall eine Gemeinschaft, in der es uns durchaus kümmern sollte was anderswo passiert. Das medizinische Fachpersonal z.B., das wir in Deutschland und anderen zumeist westeuropäischen Ländern hinzugewinnen, hinterlässt anderswo Lücken. Diese sind nicht zu füllen,  wenn es über die Jahre keinen Ausgleich in der Migrationsbewegung gibt. Z.B.  hatte Rumänien innerhalb von zehn Jahren einen Verlust von ca. 25.000 Ärzt*innen zu verzeichnen (vgl. Müller, A.: Abwanderung von Ärzten stoppen. https://www.deutschlandfunk.de/rumaenien-abwanderung-von-aerzten-stoppen.795.de.html?dram:article_id=433377, Abruf am 01.09.2020), und das bei einer Gesamtbevölkerung von ungefähr 20 Millionen Menschen. Von Apotheker*innen, Pflegekräften etc. ganz zu schweigen, die das Land verlassen haben. Ein großer Faktor in der seit Jahren schweren Krise des rumänischen  Gesundheitssystems.

Und dann kam die Pandemie: Wie bang haben wir auf die Berichte unseres eigenen Gesundheitssystems geblickt, ob es der Krankheit angemessen begegnen kann. Kaum vorzustellen wie es den Menschen z.B. in Rumänien ergangen sein mag. Gleichzeitig haben wir gesehen wie egal dem Virus unsere Staatsgrenzen waren. Mit Corona kapselten sich die EU-Staaten erst einmal ab, was als Schutzmaßnahme äußerst verständlich und nachvollziehbar ist – jedoch schien damit auch gleich jeder innereuropäische Dialog eingestellt worden zu sein. Es hat gedauert, bis sich die EU wieder zusammengefunden hat. Nun steht der Kampf gegen die Pandemiefolgen im Zentrum der EU-Ratspräsidentschaft – hoffen wir, dass der Wille zum gemeinschaftlichen Handeln und Tragen der Lasten nicht nur zurückkehrt, sondern stärker wird denn je. Der nach langem Zerren endlich fortgesetzte Entscheidungsprozess zum Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) könnte hier ein hoffnungsvoller Anfang sein.

Und wir als Christinnen und Christen? Wir sollten hinsehen, was bei uns und anderswo passiert, (immer noch) bestehende Ungerechtigkeiten benennen und nach Lösungen suchen – auch wenn die Themen für andere schon ein alter Hut sind.

Autorin und Kontakt

Benjamin Sadler

Referent für den kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt in der Wirtschaftsregion Osnabrück
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