Geschwister – Sabbat und Sonntag – von Stefan Eirich  — KAB Bundespräses

November 2021 — “Wer hat’s erfunden?” Im kollektiven Fernsehgedächtnis taucht sofort ein bestimmter Werbespot auf, in dessen Mittelpunkt ein ebenso trickreicher wie sympathischer Detektiv steht. Dieser reist im Auftrag der Firma Ricola durch die Welt und erinnert die Plagiatssünder*innen von Finnland bis China hartnäckig daran, dass das berühmte Kräuterbonbon in der gelben Tüte eine Schweizer Erfindung ist.

Wer hat’s erfunden?“ Bei der Frage nach dem Ursprung des Sonntags scheint die Antwort ähnlich eindeutig: das Judentum mit seiner seit Jahrtausenden unverwüstlichen Praxis des Sabbats als Erholungstag. Doch ganz so einfach ist die Beziehung zwischen beiden Feiertagen nicht. Trotz vieler Gemeinsamkeiten gilt es heute in der theologischen Forschung als akzeptiert, dass der Sonntag sich zum Sabbat nicht wie ein Sohn zum Vater, sondern eher wie ein jüngerer Bruder zum älteren verhält. Zu den Kennzeichen dieser familiären Bande des christlichen Glaubens gehört natürlich eine tiefe geistliche Verbundenheit „mit dem Stamme Abrahams“ (Zweites Vatikanisches Konzil, Nostra Aetate 4). Dass diese über weite Strecken vergessen, ja systematisch verdrängt und geleugnet wurde, zeigt sich leider auch in einer Auffassung, die den Sabbat als einen von starren Gesetzen überfrachteten Ruhetag diffamierte. Der Sonntag hingegen wurde und wird unter Hinweis auf das einseitig interpretierte Verhalten Jesu (vgl. Mk 2,27) als dessen „Überwindung“ präsentiert.

Schon deshalb braucht es immer wieder den klärenden Blick in die gemeinsamen Heiligen Schriften. Denn nur so lässt sich die ganz eigene Bedeutung des Sabbats und dessen hoher Stellenwert für den Gottesglauben und die Identität des Volkes Israel entdecken. Am Sabbat geht es um nichts Geringeres, als es Gott gewissermaßen gleichzutun und wie er nach sechs Arbeitstagen souverän Ruhe zu halten. Gott verleiht mit dem Sabbat seiner Schöpfung sein Qualitätssiegel. Für mich persönlich verbindet sich damit die Botschaft, dass auch meine Arbeit erst dann gut und perfekt ist, wenn sie von der Ruhe abgelöst und vollendet wird. Für diese Einsicht und deren konsequente Umsetzung weiß ich mich meinen „älteren Schwestern und Brüdern im Glauben“ zu tiefem Dank verpflichtet! Gleiches gilt für die soziale Dimension des Sabbats, denn der Ruhetag gilt ausnahmslos auch für die wehrlosen und abhängigen, also für die schwächsten Glieder der Gesellschaft (vgl. Ex 20,10). So verwirklicht sich an diesem besonderen Tag die Freiheit, die Gott unterschiedslos allen Menschen und Geschöpfen zugedacht hat. Um dies zu bekräftigen, verweisen Menschen jüdischen Glaubens auf den Exodus, den von Gott angeführten Auszug des Volkes Israel aus Ägypten in die Freiheit von Zwangsarbeit und Unterdrückung. Daher wurde in der langen Geschichte des Judentums der Sabbat primär als Ruhe- und Erinnerungstag an die Befreiung begangen; erst später trat die gemeinsame Feier der Liturgie in der Synagoge hinzu.

Anders verhält es sich bei der Entwicklung des Sonntags, denn hier war die Liturgie von Anfang mit dabei, nicht aber die Unterbrechung des Arbeitsalltags. Die frühen Judenchrist*innen gehen am Sabbat in die Synagoge. Zugleich feiern sie ausdrücklich wie die Christ*innen heidnischen Ursprungs den darauffolgenden ersten Tag der Woche als Tag der Auferstehung Jesu Christi bzw. als „Tag des Herrn“ (Offb 1,10). Möglicherweise treffen sie sich bereits am Samstagabend – nach jüdischer Auffassung beginnt der Folgetag nach Sonnenuntergang -, mit Gewissheit aber in den frühen Morgenstunden des Sonntags, einem Werktag, bevor sie ihrer jeweiligen Arbeit nachgehen. Das zweite Jahrhundert führt zur wachsenden Abgrenzung vom Judentum und damit auch zur Verdrängung des Sabbats im Christentum durch den Sonntag. Seit der gleichen Zeit ist vom Sonntag als dem „ersten und achten“ Tag der Woche die Rede. Letzterer steht für die Neuerschaffung der Welt durch Christus (vgl. auch die achteckige Architektur vieler Taufkapellen seit der Spätantike).

Als Kaiser Konstantin im Jahr 321 den Sonntag zum allgemeinen Ruhetag erklärt, geschieht dies als Reverenz an den Sonnengott, den „Sol Invictus“ und nicht als betontes Zugeständnis an die Christ*innen. Was auch immer Konstantins Motivation gewesen sei: Die Christen profitieren von diesem Dekret, denn nun können sie den sonntäglichen Gottesdienst zu einer angenehmen Uhrzeit und ohne Zeitdruck feiern. Mit der Anordnung des wöchentlichen Ruhetags nimmt Konstantin zugleich wichtige Elemente des Sabbatsgebots in die staatliche Gesetzgebung auf. Im Lauf der darauffolgenden Jahrhunderte wird die Kirche die Bedeutung der Arbeitsruhe am Sonntag begreifen und in das christliche Feiertagsverständnis integrieren.

Als Christ*innen und Christen tun wir gut daran, uns in unserer Sonntagsgestaltung von der reichen Sabbat-Frömmigkeit im Judentum inspirieren zu lassen und den Sonntag zugleich aus seinen eigenen Wurzeln als Feiertag im wahrsten Sinn des Wortes zu erneuern. Sabbat und Sonntag: was aus christlicher Perspektive lange als Vereinnahmungs- und „Überwindungsgeschichte“ verlaufen ist, weicht langsam einer Gegenwart voller Dankbarkeit für die gegenseitige Bereicherung unter Geschwistern. Und voneinander lernen können Brüder und Schwestern natürlich auch.

 

Annelies Bruhne
Referentin für Wirtschaft und Europa

KWA
Arnswaldtstraße 6
30159 Hannover
Tel.: 0511 473877-14
E-Mail