PREKÄRE ARBEIT

Predigtentwurf für einen Gottesdienst

Unsichtbare Hände: Ein Predigtbaustein zu „Schaut hin! Wohlstand hat seinen Preis“

Im Erdbeergarten meiner Großmutter lernten wir als Kinder eine unausgesprochene Wahrheit: Wer pflückt, darf auch naschen. Die süße Belohnung für die rotgefärbten Finger, für das geduldige Suchen zwischen Blättern. Heute denke ich an die Hände, die ich nicht sehe.

Die Frau, die nachts den Boden wischt in der Bankfiliale. Morgens hebe ich dort 50, 100, 150 Euro ab, spüre das Papier zwischen den Fingern, gehe an ihr vorbei, ohne sie wirklich zu sehen. Unsere Wege kreuzen sich in verschiedenen Schichten des Tages, in verschiedenen Schichten des Lebens. Vielleicht pflückte sie in ihrer Heimat auch Erdbeeren, vielleicht hatte sie sogar selbst einen eigenen Garten. Ich weiß es nicht. Ich habe nie gefragt. Aber in der Bankfiliale sind die Früchte ihrer Arbeit ein sauberer Boden, den niemand bemerkt, solange er sauber ist.

„Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“, schreibt Paulus im Zweiten Korintherbrief (2 Kor 12,9). Wenn ich diesen Satz lese, denke ich auch an den Mann, der mit erstarrten Fingern und gebeugtem Rücken auf den Spargelfeldern nach den weißen Stangen im Boden tastet. Seine Wirbelsäule eine Frage, die wir lieber nicht hören wollen. Vielleicht träumt er davon, seine Kinder studieren zu sehen. Vielleicht ist er selbst Agraringenieur.

Dann die vielen Musikerinnen und Musiker, die von ihrer Kunst allein oft nicht leben können – die nachts Konzerte spielen und tagsüber Pakete ausliefern. In ihrem Aquarium schwimmen die Träume wie bunte Fische, aber das Wasser steht manchmal schon am Hals. „In meinem Aquarium, in dem ich lebe, soll Geld nicht meine Haut sein“, singt der Hamburger MPC Lafote, der die prekäre Situation von Künstlern besingt. Aber das Geld ist längst zur zweiten Haut geworden – einer, die juckt und zu eng sitzt.

Mutig, stark, beherzt – das Kirchentagsmotto klingt wie ein Versprechen. Doch in einer Welt, die die Starken, die Sichtbaren, die Lauten feiert, ist es Gottes Kraft, die in den Schwachen mächtig wird. Vielleicht ist es ein Appell an uns: Sei mutig, diejenigen zu sehen, die unsichtbar gemacht wurden. Sei stark genug, deine Bequemlichkeit aufzugeben, das passive Nicht-wissen-wollen zu überwinden. Sei beherzt – benutze dein Herz: Im Kontaktsuchen, im Revidieren eigener Vorurteile, im Wahrnehmen der Würde jedes Menschen.

„Am Boden des Kontos ist es dunkel“, singt MPC Lafote. Am Boden unserer Gesellschaft auch. Aber gerade dort, wo wir die Dunkelheit zulassen, kann Gottes Licht beginnen. Das Licht der Aufmerksamkeit, des Hinschauens, des Nicht-mehr-Wegschauens.

Die Hände, die putzen, pflegen, ernten, musizieren, transportieren – sie formen unser aller Leben. Und wenn wir glauben, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist, dann beginnt das Reich Gottes vielleicht genau dort: am Boden des Kontos. In der Dunkelheit der frühen Morgenstunden auf den Spargelfeldern. Im Aquarium der prekären Existenz.

Hinschauen ist der erste Schritt. Und manchmal ist er mutig, stark und beherzt genug.

18.03.2025

Dr. Constantin Gröhn, Wissenschaftlicher Referent für Theologie und Wirtschaftsethik beim Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt der Nordkirche

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